Warum mich der Abriss eines alten Hauses sentimental sein lässt.
Morgens um kurz vor sieben ist die Welt noch in Ordnung, meistenteils wenigstens. Zu mindestens hier bei mir, dort wo ich wohne und wo ich salopp sage, << hier ist meine Heimat<< Ich kenne alles. Jedes Geräusch, jedes Haus, jeden Baum und weiß, wer wann mit welchem Auto zu Arbeit fährt. Daran hat sich in den letzten Jahren nichts geändert. Und dann das. Anstatt all morgendlichen Vogelgezwitschers hörst du auf einmal lauten Baggerlärm und ein Geräusch, dass dir augenblicklich die Nackenhaare empor stehen lassen. Und auf einmal ist es weg, das Haus das für mich seit zwei Jahrzehnten nur zwei Häuser entfernt stand. Und plötzlich ist nichts mehr, wie es war. Über Nacht hat sich meine kleine Welt verändert und mit jedem neuen Schlag des Abrisshammers wird mir unwiderruflich bewusst, dass sich meine Heimat verändert. Dabei liebe ich sie so wie sie ist. Ich finde, es ist ein beruhigendes Gefühl durch Straßen zu gehen, in denen ich Stein für Stein kenne, wo mir nichts fremd ist und ich auch morgen noch sicher sein kann, dass sich daran nichts ändern wird. Ein Trugschluss, natürlich . Aber einer, dem ich gerne aufsitze, weil Veränderung auch bedeutet, dass Dinge, die mir wichtig sind , an die ich mich im Laufe meines Lebens gewöhnt und die ich ein Stück weit liebgewonnen habe, sich vor meinen Augen verändern und ich nichts dagegen tun kann.
Jeder kennt dieses Gefühl. Spätestens dann, wenn man nach Jahren zu dem Ort zurückkehrt, wo man aufgewachsen ist. Man erkennt eigentlich nichts mehr und muss lange suchen, bis man so ein Gefühl von vergangener Heimat in sich wiederentdeckt. Natürlich gab es hier und da kleine Veränderungen. Aber der große Kahlschlag blieb bislang aus. Und während die Abissbirne ganze Arbeit geleistet hat, habe ich mich gefragt: << Heimat was ist das eigentlich? Ein Gefühl, ein Ort oder reine Sentimentalität<<? Bei Wikipedia steht dazu ziemlich sachlich:
Der Begriff Heimat verweist auf eine Beziehung zwischen Mensch und Raum. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird es auf den Ort angewendet, in den ein Mensch hineingeboren wird und in dem die frühesten Sozialisierungserlebnisse stattfinden. Heimat bedeutet Identität, Charakter, Mentalität und Einstellung.
Nun ist die Heimat, in der ich seit zwei Jahrzehnten wohne nicht der Ort, wo ich aufgewachsen bin. Aber es war und ist der Ort, wo ich meine Seele baumeln lasse, wo ich Freud und Leid erlebt habe und hoffentlich noch viel erleben werde, wo ich zwar nicht alle Bewohner persönlich kenne, aber doch vom Sehen und manchmal auch von gelegentlichen Plausch über den Gartenzaun. Eine gewachsene Gegend. Entstanden in den späten Fünfzigern. Aufgebaut mit den Händen Arbeit, von Menschen, die irgendwann aus ihre Heimat, der Memel und Oder vertrieben wurden. Klar, liegt das schon lange zurück und dennoch konnte sich meine Gegend diesen unverwechselbaren Charakter über Jahrzehnte bewahren. Und genau dieser Charakter war es, der mich vor über zwanzig Jahren begeistert hatte und uns dazu bewogen hatte, hier unser Leben zu leben. Selbstredend zogen hier und da, in den vergangenen Jahren neue Familien ein. Aber die Neuen, wie man so schön sagt, ließen die alten Siedlungshäuser in ihrem ursprünglichen Zustand. Und natürlich kam es auch vor, dass mal ein neuer Eingang entstand, alte Fenster durch neue ersetzt worden und etwas Modernität auch in unsere Gegend Einzug hielt. Aber es hielt sich in Grenzen. Wann immer man hier entlang spazierte, erkannte man an allen Ecken und Kanten den alten unwiderruflichen Charakter einer gewachsenen Wohngegend.
Genau das Alte mag ich. Ich mag die Geschichten, die von solchen alten Häusern ausgehen. Es ist, als würde jeder Stein, jeder Gehweg, jede Fuge, dir seine Geschichte erzählen. Auch in dem Haus, das jetzt der Abrissbirne zum Opfer gefallen ist. Ich kannte sie nicht gut, die Familie, die dort wohnte. Eigentlich kannte ich sie gar nicht und, wenn ich ehrlich bin, habe ich von der alten Dame, die dort ihr Leben über sechzig Jahre lebte nicht viel gewusst. Aufgefallen war sie mir erst, als sie immer langsamer und gebrechlicher, gestützt von ihrem Rollator allmorgendlich die Straße entlang ging und einen freundlich grüßte, wenn man sie sah. Was aus ihr geworden ist? Keine Ahnung! Ich weiß nicht, ob ich ihr wünschen sollte nicht mehr da zu sein. Um vielleicht nicht doch irgendwie und sei es auch nur ganz wenig, von der Veränderung mitzubekommen, die in den letzten Wochen in ihrem alten Haus und auf ihrem Grundstück passiert ist. Woche für Woche wurden Möbel für Möbelstücke herausgetragen, Bäume gefällt, Zäune weggenommen und dann gestern der totale Kahlschlag. Binnen eines Tages war alles dem Erdboden gleichgemacht. Bei mir wirft es die Frage auf, möchte ich das wirklich selbst irgendwann erleben. Zuzusehen, wie ein Stück meines Lebens Stein für Stein verschwindet und mein Leben ein für alle Mal ausgelöscht wird? Natürlich ist mir bewusst, dass nichts bleibt, wie es ist. Auch mein Haus wird eines Tages vom Erdboden getilgt und mit ihm auch das, was ich hier erfahren und erleben durfte. Aber noch ist es nicht so weit. Gott sei Dank. Dieser Gedanke beruhigt, wenngleich er einem auch auf manchmal schmerzlicher Weise die eigene Sterblichkeit ins Gedächtnis ruft.
Natürlich wird die Lücke durch einen schmucken Neubau gefüllt. Eines, dieser hochmodernen, effizienten und sterilen Häuser wird in den nächsten Wochen hochgezogen. Und vielleicht, wird der Garten auch erneut mit Kinderlachen gefüllt und Hunde auf dem Rasen spielen. Und dennoch wird mein Gefühl, wenn ich dort entlang gehe nicht mehr dasselbe sein. Es wird mir immer ein Stück fremd bleiben und mir kein Lächeln mehr ins Gesicht zaubern und mir auch nie wieder irgendeine Geschichte erzählen. Macht es mich traurig? Ja, ein wenig und das gebe ich ohne Scheu und doppelten Boden zu, weil mich dieser Abriss auf seltsamerweise sentimental macht, mir das Bewusstsein ganz hautnah spüren lässt, dass sich auch mein Leben rasant verändert und ich über Nacht von der jüngeren, zugezogenen Generation zu der alteingesessenen gerückt bin. Heimat ist eben doch mehr als nur ein Ort, eine Begrifflichkeit. Es ist ein Gefühl, dass man schlecht in Worte fassen kann, was nicht greifbar ist und dennoch ganz neue Empfindungen entstehen lässt, wenn es große Umbrüche und Veränderungen erfährt.
Bei der Recherche zum Thema Heimat fand ich folgendes Zitat:
Heimat kann man nicht vererben. Sie ist in meinem Kopf. Und sie ist in meiner Seele ( Horst Bienek. Dt. Schriftsteller)
Wie ich finde, ein wunderschöner Satz. Einer, der exakt das aussagt, was ich mit Heimat verbinde. Es ist ein Ort, wo ich mich aufgehoben fühle, wo ich die Stille, meiner Seele lauschen kann, wo mich, im besten Fall, nichts stören und quälen kann, wo ich zuhause bin und sein darf, wie ich mich fühle. Dazu gehören selbstredend meine eigenen vier Wände und ebenso all die anderen Häuser und Gärten, Menschen, die darin wohnen und selbst die kleinen und großen Geschäfte, in denen ich den Bedarf meines täglichen Lebens kaufe. Heimat soll beständig sein, soll das Gefühl von Geborgenheit vermitteln und einem nicht fremd erscheinen. Und natürlich hofft man, auch, wenn man es selten zugibt, dass genau diese Gefühle der eigenen kommenden Generation vererbt werden. Das sich eben nicht die Abrissbirne irgendwann im frühen Morgentau beschwerlich durch die Straßen bewegt und mit einem harten und lauten „ Bumm“ alles zunichtemacht.
Was kommt, ist eine neue, jüngere Generation, die meine „alte und vertraute Heimat“ umgestalten wird und ihr ihren eigenen unverkennbaren Stempel aufdrückt. Bislang sind es nur wenige Häuser und dennoch werden andere folgen. Eines nach dem anderen wird der Abrissbirne zum Opfer fallen und mit ihnen unwiderruflich deren Geschichten und alt vertrautes.
Sentimentalität mag der eine dazu sagen, verlorene Geborgenheit der andere. Wie immer man es auch sehen mag. Vielleicht mag man sich damit trösten, dass Generation für Generation die gleichen Erfahrungen machen musste, altes nie von Dauer ist und wenn das alles nichts hilft, einfach sich immer wieder eines dieser netten Sprichwörter ins Gedächtnis ruft:
Eines Menschen Heimat ist auf keiner Landkarte zu finden, nur in den Herzen der Menschen, die ihn liebten.
Ich wünsche jedem Einzelnen genug Menschen um sich herum, die ihm, was immer auch geschehen mag, im Herzen bewahren und mit ihm auch seine Geschichte.
In diesem Sinne.
Herzlichst eure heutige sentimentale Lilo.