Schön war die Zeit.
Vor ein paar Tagen hab ich mir eines dieser „ Ich lese sie sonst nur beim Arzt, oder Friseur“ Zeitschrift gekauft. Genau. Das sind die, die keiner liest und trotzdem jeder kennt. Dieses Mal ging es jedoch nicht um die neueste Liebeserrungenschaft irgendeines Prinzen, den Schnupfen von Klein Willi , oder einer waschechten Lovestory mit Wahrheitsgarantie. Nein. Meine war vollkommen neu und versprach schon vom Titel, dass mir ein wahnsinniges Lesevergnügen ins Haus stand. Retro hieß das Zauberwort. Die Erfüllung eines jeden Lesers, der jenseits der vierzig ist. Retro versprach eine absolute Reise in längst vergangene Zeiten. Und ich, die gerne in Erinnerungen früherer Zeiten schwelgt musste dieses Exemplar unbedingt haben. Viel Neues fand ich allerdings nicht. Die Storys waren altbacken und hätten es mit jeder GALA aufnehmen können. Bei zwei Artikeln bin ich dennoch hängen geblieben und ja, wie sollte es anders sein, fühlte ich mich augenblicklich in meine Kinderzeit zurückversetzt.
Da waren sie, die Helden meiner Kindertage. Mary Poppins, Urmel aus dem Eis, Bezaubernde Jeannie, Cinderella und Pan Tau. Eine Figur nach der anderen löste wundervolle Erinnerungen aus. Im Geiste sah ich mich vor dem alten schwarz weiß Fernsehgerät sitzen. Das größte Glück war es mit einem geschmierten Butterbrötchen zuzuschauen, wie Jeannie ihren Meister zum Verzweifeln brachte, Flipper ein Abenteuer nach dem anderen erlebte, der kleine John meilenweit mit seinem Vater Richtung Santa Fe ritt , oder Walt Disney höchstpersönlich jeden Sonntag uns seine fantastische Welt in die heimische Stube brachte. Was haben wir mit der Augsburger Puppenkiste gelacht und gelitten. Ich kannte niemanden, der nicht mindestens einmal versuchte so zu reden wie das Urmel oder das Walross. Und als ob das nicht genug gewesen wäre, fand ich ein paar Seiten später Tante Tilly, die quasselnd die Hände ihrer Kundschaft in Palmolive badete, Frau Sommer, die mit Jacobs Kaffee , den ultimativen Kaffeegenuss versprach und natürlich die bunten Pril-Blumen. Ach ja. Zeitreisen sind doch was Wundervolles. Schon deshalb, weil man sie erlebt hat , obwohl man heute weiß, dass diese Zeit nicht besser oder schlechter war als unsere Heutige und wir sie dennoch gerne glorifizieren und beinah mit einem Heiligenschein versehen. .
Ist es nicht so, dass wir uns selber da gerne etwas vormachen, wenn wir behaupten die 60iger, die 70iger oder die 80iger wären so wundervoll und schön gewesen. Wenn ich mich an meine 60iger und 70iger zurückerinnere, sehe ich, abgesehen von meinen Kindheitsidealen- und Helden, auch eine Zeit, die alles andere als schön war. Mit meinem Baujahr 1961 sind natürlich die Erinnerungen an die 60iger mehr naiv und kindlich als repräsentativ. Dennoch kann ich mich erinnern, dass wir in beengten Räumlichkeiten wohnten, meine Eltern ackern konnten, bis die Schwarte krachte und es dennoch für eine siebenköpfige Familie kaum reichte. Ich sehe mich meine Nase an der Fensterscheibe eines damals bekannten Süßwarengeschäftes platt drücken, nur weil ich dort Leckereien sah, die wir uns, wenn überhaupt nur zu Weihnachten leisten konnten. Sonntags gab es Kuchenbruch vom Bäcker und unsere Kleidung gab es von Tante „Ruth“, die einmal im Monat, mit zwei Koffern voller gebrauchter Kleidung vorbeikam und während meine Mutter und sie einen Kaffee tranken wurden die besten Stücke hervorgeholt. So manches Kleid fand im Original, oder mit verändertem Saum oder Halsausschnitt, in meinen Schwestern oder mir einen würdevollen Nachfolger.
Kinder hatten es nicht leicht. Wir hatten wenig zu melden und, wenn sich Erwachsene unterhielten hatten wir unseren Mund zu halten. Wurden wir zum Kindergeburtstag eingeladen wurden wir geschrubbt, bis die Haut an den Händen und dem Hals rot war. Hinterher wurden wir herausgeputzt als wären wir alles kleine Pfingstochsen, mit Blumenstrauß und der Ermahnung sich ja zu benehmen, nicht zu kleckern und schön zu knicksen, wenn man etwas bekommt, durften wir dann los ziehen. Sonntags mussten wir draußen spielen, aber bitteschön, nicht dreckig machen. Immerhin trug man den Sonntagsstaat, oder wurden ins nahe gelegene Kino geschickt, damit Mami und Papi mal das tun konnte, wozu sie sonst wohl nicht kamen. Auch gefeiert wurde und das nie zu knapp. Dazu bedurfte es keinen Anlass. Man feierte einfach so und, weil man sich damals noch mit der gesamten Familie, Freunden und Nachbarn samstags oder sonntags zum Frühschoppen traf. Schon spät mittags standen Schwarzen Kater, Kirsch – Likör und die Buddel Köm, für das Herrengedeck „ Lütt und Lütt“ auf dem Tisch. Spätestens am späten Nachmittag, bevor es die berühmten Schnittchen gab, konnte man Onkel Heins oder Tante Clara angetrunken Geschichten von Anno dazumal reden hören, und garantiert wurde einer von uns bewaffnet mit einem „ Heiermann“, also einem fünf Mark Stück zur Eckkneipe geschickt um Nachschub zu holen. Selbstredend sind wir nie mit leeren Taschen zurückgekommen. Diskussionen mit den Eltern gab es einfach nicht und wenn, wurde diese mit dem Satz“ Solange du deine Füße unter meinem Tisch steckst hast du zu parieren“ augenblicklich und sofort beendet. Ohrfeigen waren gang und gäbe und selbst die heute Gottlob verbotene „ Tracht Prügel“ war keine Seltenheit.
Die 70iger waren da schon etwas besser. Neumodische Erziehungsmethoden wurden gesellschaftsfähig und hielten in vielen Familien Einzug. Anstelle von Altkleidern oder neu aufgepeppter Kleidung seiner Geschwister trug man Klamotten von C & A, wer meines Jahrgangs erinnerte sich nicht mit Schrecken an die Palomino Jeans, oder Mutti strickte Hosen, Röcke oder Pullover, das war nämlich ganz große Mode. Die Feste wurden auch weniger. Zum einen, weil Mutti ab Anfang der 70iger mitarbeiten musste und, die Wochenenden plötzlich der Familie gehörten. Es war schick gemeinsam Ausflüge zu unternehmen, oder ins Kino zu gehen. Gefeiert wurde auch noch, aber seltener und, wenn wurde viel weniger Alkohol konsumiert. Ein neues Gesundheitsbewusstsein machte alten Gewohnheiten Platz. Bildung nahm einen ganz anderen Stellenwert ein und plötzlich hatte jeder die Chance zum Gymnasium zu wechseln, unabhängig aus welcher sozialen Schicht man kam. Mit Graus erinnere ich mich an meinen Schulwechsel. Acht Klassen a 36 Schüler und vor lauter Lärm konnte man kaum dem Unterricht folgen. Die Gehälter passten sich dem neuen Lebensstil in einer wahnsinnigen Geschwindigkeit an und Urlaube in Rimini, am Goldstrand von Bulgarien oder Rumänien konnte sich, dank Neckermann Reisen, jeder leisten. Endlos Diskussionen darüber was man darf oder nicht darf gehörten bald der Vergangenheit an. Mit 16 durfte ich in die Disko und als ich 18 war, war es beinah eine Selbstverständlichkeit, dass der Freund mal über Nacht bleiben durfte. Und das Schöne, mit den eigenen Eltern waren urplötzlich auch Diskussionen über Gott und die Welt möglich. Ja. Die guten alten Zeiten hatten schon sehr viel schönes, aber eben nicht immer und es brauchte eine Unmenge an Zeit und Veränderungen, in den Köpfen und Herzen, um Selbstverständlichkeiten, Annehmlichkeiten und Luxus von heute möglich zu machen.
Ich denke dennoch gern ab und an, an diese Zeiten zurück. Sie gehören zu mir, wie meine Nase, mein Mund, meine Augen, meine Beine … nicht alles von dem mag ich, aber ich hab mich im Laufe meines Lebens damit arrangiert.
Am Wochenende habe mir ein zweites Mal in aller Ruhe meine Retro Zeitschrift angesehen. Bei den Helden meiner Kinderzeit spürte ich erneut dieses warme wohlige Prickeln im Bauch, ich lächelte über Tante Tilly und über die Erinnerung an Hunderten von Pril-Blumen, die meine Kinderzimmer-Wand schmückten. Und noch etwas spürte ich, ganz tief aber sehr deutlich:
das Glück ,heute in einer völlig anderen Zeit leben zu dürfen.
Nimmt man nämlich den 60igern und 70igern den Glorienschein und das Konfetti aus dem Gesicht, so bleibt am Ende nichts weiter übrig als eine Zeit, in der es anders war aber auf keinen Fall besser.
Es ist wie Zuckerwatte. Als Kind mag man es essen- als Erwachsene schmeckt es nur noch klebrig und süß.
In diesem Sinne
Herzlichst eure Lilo.