Sprachlos und wütend oder, warum ich mir einiges anders wünschen würde.
Neulich war ich mal wieder beim Arzt meines Vertrauens. Eigentlich nehme ich mir jedes Mal vor, mich mit einem guten Buch zu bewaffnen, um die Wartezeit so angenehm wie möglich zu gestalten. Aber, wie so viele gute Vorsätze, bin auch ich diesbezüglich vergesslich. Ich saß mal wieder da und starrte Löcher in die Luft. Nach einer knappen halben Stunde hatte ich die Nase gestrichen voll vom Gucken und stöberte dann doch im Stapel der ausliegenden Zeitschriften. Vielleicht finde ich ja doch mal eine Zeitschrift, die sich nicht ausschließlich mit den üblichen Boulevard- Themen beschäftigt. Ehrlich, mir ist schleierhaft, warum sich anscheinend so viele Menschen für die Geschichten berühmter oder gekrönter Häupter interessieren? Ist es wirklich wichtig zu wissen, ob Herzogin Kate, in den letzten drei Monaten, ihre Porzellanschüssel ausgiebig von allen Seiten angesehen hat, Mette – Mariet endlich den richtigen Weg gefunden hat, um bei ihrem Volk zu punkten oder, warum Boris Becker trotz Pleite glücklich ist? Wobei letzteres mir allerdings ein Rätsel ist. Nicht, dass er glücklich ist. Von mir aus kann er jeden Tag seines Lebens voller Freude auf einem Bein oder durchs Leben tanzen. Aber, wie kann ein Mann mit seinen Millionen, und er hatte Unmengen an Geld, pleite sein? Na ja, Schwamm drüber. Sollte mir eigentlich völlig schnuppe sein. Ich habe weder von seinem Geld etwas gehabt noch jetzt von seinem geldlosen Dasein.
Nachdem ich so ungefähr zehn Zeitschriften vom rechten Stapel auf den Linken gelegt hatte, entdeckte ich dann doch eine, die mehr versprach als Tratsch und Lästerei. Auf dem Cover-Foto war ein Bild eines ungeborenen Kindes abgedruckt und darunter stand in großen Lettern:
ICH. Forscher entschlüsseln wie Persönlichkeit und Intelligenz entsteht.
Das ist mal ein Thema, was wirklich interessiert. In Erwartung einer langen Wartezeit, von noch mindestens einer Stunde, machte ich es mir, in einem der meistenteils unbequemen Stühle bequem. Gottlob hatte ich meine Lesebrille geistesgegenwärtig in die Tasche gelegt. Eine kluge Entscheidung. Hätte ich doch anderenfalls mich mit den Hochglanzbildern von Gala oder Frau im Spiegel begnügen müssen.
Sogleich machte ich mich ran an den Artikel. Nur keine unnötige Zeit verplempern. Nicht, dass ich noch vor Ende des Artikels aufgerufen werden würde. Ich hasse es nämlich angefangene Artikel nicht bis zum Schluss zu lesen.
Der Titel war ja Programm genug und ich war ehrlich gesagt, gespannt, was es auf diesem Sektor für neue Erkenntnisse gab.
Kinder aus ärmeren Familien haben schlechtere Noten und häufiger gesundheitliche Probleme, standen gleich zu Beginn. Ach was, dachte ich. Neu ist das nicht. Also weiterlesen und schauen, welche Erkenntnisse, die wir schon kennen, mich noch erwarten.
Im Dunkeln des Mutterleibes, haben Forscher herausgefunden, durchläuft jeder Mensch eine folgenreiche Geburtsvorbereitung. Aus den biochemischen Informationen, die ihn über die Plazenta, Nabelschnur und die heranreifenden Sinnesorgane erreichen, macht er sich ein Bild von der Umwelt, die ihn erwartet.
Wie darf ich mir das denn vorstellen? So ähnlich, wie ein Videofilm, nur nicht als Bild , sondern als Gefühle? Das Föten und heranwachsende Säuglinge während ihrer zehn Monate, ja richtig gelesen, es sind nicht Neun , sondern zehn lange Monate, die man im Mutterleib verbringt, die Stimmen ihre Eltern lernen zu erkennen, Licht und Schatten sehen und sich an wundervoller Musik erfreuen, wusste ich. Dass sie allerdings ihre Umwelt auf Gut oder Schlecht abtasten, das war mir wirklich neu.
Herrscht das draußen Überfluss oder muss er ums Überleben kämpfen? Wird seine Welt voll Liebe sein oder bestimmt Streit, Lärm und Gewalt seine Zukunft? All diese Dinge wissen Babys, also schon vor dem Tag ihrer Geburt. Ehrlich, kein Wunder, dass es dann bei einigen so lange dauert, bis das Kind das Licht der Welt erblickt. In eine Welt, in der mich nichts außer Stress, Lärm und Streit erwartet, würde ich auch nicht hineingeboren werden wollen.
Nicht die Geburt ist also die Stunde null im Leben eines Menschen. Wer auf die Welt kommt, trägt schon viele Erlebnisse und Erfahrungen mit sich herum- untrennbar verwoben mit denen der Mutter. Und das Baby hat die neun / zehn Monate gut genutzt, um sich möglichst gut anzupassen an seinen künftigen Lebensraum. Selbst, wenn sie es nicht täten, bliebe ihnen ja nichts anderes übrig, als damit klar zu kommen. Gut, zu wissen, dass sie sich schon vorher auf alle Eventualitäten bestens vorbereiten. Was nicht bedeutet, dass ich es gut heiße, wenn Kinder in eine solche unschöne Welt hineingeboren werden und trotz breiter Mittel darin belassen werden!
So, so im Erbgut, der Kinder hinterlässt die mütterliche Stimmung ihre Spuren. Was mal wieder beweist, dass wir Mütter an allem schuld sind. Forscher haben herausgefunden, dass ungünstigere Bedingungen, bei der Schwangerschaft dazu führen, dass Babys mit viel kleineren Gehirnen geboren werden, was wiederum dazu führt, dass sie später weiterhin benachteiligt sind und wesentlich langsamer lernen , als die Kinder, deren Mütter ausgeglichen und glücklich waren. Übrigens wurde diese Studien auch dazu genutzt, um zu erklären, warum es so viel Kinderarmut in Deutschland gibt.
Ich frage mich, ob die Politiker wirklich so blind und taub sind und diese Erkenntnisse als billige Entschuldigung dafür nehmen, dass in unserem Land eben nicht alles in Ordnung ist? Es ist einfach zu sagen, Kinder von sozial schwächeren Eltern haben keine Chance. Dafür können wir nichts. Das liegt in ihrem Erbgut und in ihrer Pränatalen Entwicklung. Die Zukunft dieser Kinder hat sich womöglich schon im Mutterleib entschieden und Fördermaßnahmen in Kita und Grundschule kommen viel zu spät.
Meine Güte, was für eine Entschuldigung für das Versagen von Vater Staat und Gesellschaft ! Natürlich mag es eine Rolle spielen, wie eine Schwangerschaft verläuft und, ob ich Eltern aus sozial gehobenen oder niedrigem Stand habe, um im späteren Leben voranzukommen. Aber es als Entschuldigung für verpasste Möglichkeiten, einem besseren Start ins Leben und einem besseren sozialen Umfeld zu nehmen, halte ich für sehr verwerflich.
Wenn also Wissenschaftler mittlerweile wissen, dass die frühkindliche Entwicklung im Mutterleib über eine gute oder schlechtere Zukunft entscheidet, wieso setzt man nicht schon da an, wo es nötig ist, um möglichst allen Kindern die gleichen Startmöglichkeiten zu geben?
Selbstredend kann man weder an der Schulbildung noch an dem beruflichen Status werdender Eltern etwas ändern. Wenn man jedoch weiß, dass Armut, zu wenig oder ausreichend gesunde Ernährung , Stress und Streit dazu führt, dass aus den Kindern später ebenfalls Erwachsene werden, die höchstwahrscheinlich in den gleichen sozial minderen Verhältnissen leben , wie ihre Eltern, sollte man doch schleunigst damit anfangen , von Anfang an besser Bedingungen zu schaffen.
„ Stress schadet Ihnen und Ihrem Kind“, warnt ein Plakat in einem Nebenraum einer Hebammenpraxis. Das ist kurzgefasst auch die aktuelle Botschaft der Pränatalforscher. Und genau in dieser Praxis brennen Abend für Abend, natürlich nur für gut betuchte werdende Eltern, grüne Windlichter mit Buddha- Motiven, es riecht nach Räucherstäbchen, was mir viel zu viel wäre, aber das ist eine andere Geschichte und elf Frauen mit Kugelbauch liegen auf weichen weinroten Mappen.
„ Wenn Gedanken kommen, lass sie weiterziehen“, sagt die Kursleiterin in einem warmen weichen Ton und rät allen werdenden Muttis: „ Sei im Hier und Jetzt.“ Was folgt, sind eineinhalbstündige Bewegungen im Wechsel mit Entspannung, dem Sonnengruß, Krieger, Kuhrücken, Schwangerendrehsitz und Atemübungen aus den tiefen deines Körpers. Schwangeren- Yoga soll gesund sein, und zwar für Mütter und heranwachsende Babys.
„ Wir müssen davon ausgehen, dass Kinder von Müttern, die während der Schwangerschaft großen Stress hatten, ihr genetisches Potenzial nicht voll ausschöpfen können“ analysieren die Forscher. Einige Bereiche der Großhirnrinde waren bei Kindern, deren Mütter, während der Schwangerschaft gestresst waren, im Alter von sechs bis neun Jahren kleiner als bei einer Vergleichsgruppe. Die Kinder waren zudem impulsiver und es fiel ihnen schwerer, Handlungen sinnvoll zu planen und sich auf wichtige Dinge zu konzentrieren.
Mich hat diese Studie sprachlos gemacht und gleichzeitig wütend. Wütend deshalb, weil Forscher in mühevoller jahrelanger Arbeit anscheinend den Schlüssel dafür herausgefunden haben , warum es für sozial schwächere Kinder so wenig Möglichkeiten zum sozialen Aufstieg gibt und das ihre Zukunft schon längst entschieden ist, bevor sie überhaupt den ersten Piep gemacht haben und man trotz dieser Erkenntnisse denen, die im Grunde nichts dafür können, keine bessere Hilfe angedeihen lassen. Auch die so viel geliebten Klischees ärgerten mich maßlos.
Sprachlos deshalb, weil mir vieles wirklich gar nicht so bewusst war und ich manche Zusammenhänge bislang nie so deutlich verstanden habe und , weil ich ganz tief in meinem Inneren augenblicklich und ehrlich Mitleid mit all den kleinen heranwachsenden Babys empfunden hatte, die überhaupt nie die Chance haben, auf ein anderes Leben als das, was sie im Mutterleib erfahren haben.
Ich frage mich also. Wenn im privaten Umfeld schon genug Stress und Lärm und Armut vorhanden ist, warum werden dann nicht vom ersten Tag der Schwangerschaft für Mutter und Kind Schutzmaßnahmen getroffen, um ihnen wenigstens die Schwangerschaft stressfreier zu gestalten? Ich bin überzeugt davon. Auch Müttern mit geringer Schulbildung und einem schwächeren sozialen Umfeld würde Schwangeren- Yoga guttun.
Unser Gesundheitssystem steht auf einem guten Fundament. Unsere Gesellschaft hat im Überfluss und dennoch bleiben die auf der Strecke, die Hilfe eigentlich am nötigsten hätten. Unser Gesundheitssystem gibt Milliarden aus für Menschen die sich dick und rund futtern, den Hals nicht voll kriegen und sich ihren Verstand entweder weg saufen oder mit Drogen vollpumpen. Es werden ganzheitliche Kurse für eine bessere Gesundheit angeboten und laut Statistik erhält jeder dritte eine Reha- Kur zum beinahe Nulltarif. Nur eine sinnvolle frühkindliche Entwicklung gibt es leider nicht zum Nulltarif.
Da ist es schon besser, sich später herauszureden und zu sagen: Dafür können wir nichts!
Natürlich kann die Gesellschaft nicht alles übernehmen. Das erwartet auch niemand. Aber dafür Sorge tragen, dass zu mindestens, in den ersten neun Monaten und darüber hinaus, wenigstens die ersten drei Lebensjahre, von denen man heute sehr bewusst weiß, dass sie für alles andere eine entscheidende Rolle spielen, die Welt noch einigermaßen in Ordnung ist, das wäre wünschenswert.
Nicht die sozial schwächeren Schwangeren und neu Müttern alleine lassen , sondern an die Hand nehmen und ihnen möglichst viel Gutes anbieten, sie fördern und ihnen begreiflich machen, dass sie am zukünftigen Leben ihrer Kinder sehr viel mehr verändern können. Vorausgesetzt man bietet Ihnen diese Möglichkeiten frei Haus an.
Es ist ein Unding zu behaupten, dass es nur sozial höher gestellten Müttern wichtig ist, ihre Kinder möglichst schon vom Entstehungstag einen guten Start zu ermöglichen. Sozial schwächeren Müttern liegt das Wohl ihrer Kinder ebenso am Herzen. Es fehlt ihnen nur an Geld, um die dafür nötigen Kurse und die spätere Kleinkinderförderung zu bezahlen.
Und vielleicht würde dann eines Tages der Satz:
„ Arm bleibt Arm und dumm bleibt dumm“ ein Relikt aus der Vergangenheit sein.
Wie hieß es doch noch gleich im Leitsatz des Artikels:
Schon im Mutterleib entscheidet sich, wie krankheitsanfällig Kinder später sind und wie gut sie lernen können. Hat die Schwangere viel Stress, stört das die Hirnentwicklung ihres Babys. Beim guten Start ins Leben helfen: entspannte Eltern!
Beginnen wir im Hier und Jetzt damit und warten nicht auf noch mehr Erkenntnisse, die sowieso keinen so wirklich interessieren.
In diesem Sinne
Herzlichst eure Lilo.