Ich will glauben, dass……
Rituale sind nicht nur etwas Wunderbares, sondern geben auch Sicherheit. Auch ich habe das eine oder andere Ritual, an dem ich festhalte – komme, was da wolle. Eines, worauf ich wirklich nie mehr verzichten könnte ist, meine morgendliche Tasse Kaffee im Bett. Ich lasse den Tag langsam an mich heran. Keine frühmorgendliche Übertreibung – alles noch auf Slow Motion, bevor die Hektik des Tages einen mitnimmt. Das tut gut und hilft gleichzeitig sich auf das, was, vielleicht kommt einstellen zu können.
Doch diese Tage kann man sich auf nichts einstellen. Irgendwie ist es eine unwirkliche ja beinah kaum vorstellbare Zeit. Dinge und Begebenheiten, die uns vor 2 – 3 Wochen noch beschäftigt hatten, sind in eine Art Bedeutungslosigkeit verschwunden. Fast erscheinen sie einem so banal, dass man sich fragt, warum man dies oder jenes unbedingt tun wollte. Was dieser Tage wirklich zählt, ist Menschlichkeit, Sozialkompetenz und Rücksicht auf andere. Alles Dinge, die wir stets von anderen einforderten und manchmal selbst nicht in der Lage waren sie uneingeschränkt zu erfüllen. Diese Tage, ist jeder gefragt. Keiner kann sich entziehen und muss seinen Teil dazu beitragen, dass es allen gut geht.
Sieht man jedoch manche Bilder, so fragt man sich, warum dies nicht jedem bewusst ist. Es sind nicht nur junge Menschen, die sich nicht an dem Kollektiven Rückzug halten wollen. Auch ältere, Menschen meines Alters tun noch immer so, als ginge Sie all das, was gerade passiert nichts an. Die ersten Gruppierungen, die sich lauthals über eine solche Ignoranz aufregen bilden sich. Man zeigt mit dem Finger ganz ungeniert auf andere und das, ohne sich selbst an die eigene Nase zu fassen. Noch vor ein paar Wochen gingen genau diese Menschen auf die Straße und demonstrierten zu Tausend für eine besser Welt. Und ich bescheinigte diesen Menschen soziale Kompetenz, Verantwortungsbewusstsein und nahm ihn ihr Engagement zu 100 % ab. Jeder, der mir etwas anders sagen wollte, strafte ich Lügen. Und nun frage ich mich, ob ich einem Irrtum aufgesessen bin? Habe ich mich von der Masse blenden lassen, von einer Welle an jungen Menschen, die eigentlich gar keine Veränderung wollten, sondern einfach nur im Mainstream einer allgemeinen Aufregung mitliefen? Es scheint beinah zu befürchten zu sein. Ja, auch ich empfinde etwas Unverständnis angesichts der jungen und mittleren Generation, die noch immer in Parks zusammensitzen und glauben, dass unsere menschliche Zwangspause dazu dient, um Spaß zu haben, um das Leben in vollen Zügen ausnutzen , um der Welt, anderen und nicht zuletzt auch sich zu beweisen, dass Individualismus noch immer Trumpf ist.
Zurzeit kursiert in den social Media ein Video. Ein sehr eindrucksvolles, wie ich finde und eines, was sofort und augenblicklich und direkt ins Herz schießt. In diesem Video spricht die Welt, die wir so lange unbeachtete gelassen haben zu uns Menschen. Sie spricht darüber, wie wir sie ausgebeutet haben, ihre Wälder, Wiesen und Felder, Meere, Seen und Bäche verunreinigt und getötet haben, wie sie verzweifelt nach Atem schnappte und wir, ihre Bewohner all ihre Tränen, Schreie und Kämpfe übersehen und überhört haben. Am Ende heißt es, die Welt habe uns, den Menschen, diesen Virus gesandt, damit wir verstehen, damit wir begreifen, dass wir so wie bisher nicht weiterleben können. Sie straft uns für unsere Untaten und hofft, dass wir daraus lernen. Übertrieben oder zu esoterisch? Vielleicht – aber selbst unser Bundestrainer, Jögi Löw glaubt an eine höhere Macht und an das Übernatürliche. Warum also nicht auch du und ich? Wir Menschen glauben ja so gerne - gerade in Zeiten der Not.
Ich weiß nicht, ob wir es wirklich tun. Ob wir wirklich so klug sind, um zu verstehen, dass dieser Virus eigentlich unsere allerletzte Chance ist, das Ruder nochmals umzureißen? Noch scheint unsere Situation für manchen ein riesengroßer Spaß zu sein. Zwangsurlaub, den viele so nutzen, wie sie möchten. Dabei ist es alles andere als das. Wir stehen, um Haaresbreite vor einem Kollaps. Den Supergau, den keiner für möglich gehalten hat. Und doch ist er jetzt schon sichtbar.
Die Welt steht still. Keine Flugzeuge, die dröhnend den Himmel bevölkern, keine Schiffe, mit Hunderttausend Touristen, die über die Weltmeere schippern, keine Massen von Menschen, die arrogant und selbstgefällig dort Urlaub machen, wo angeblich die Strände am schönsten die Sonne am heißesten und die Menschen am fröhlichsten sind. Lange Autoschlangen, Staus und genervte Bürger - Fehlanzeige! Und plötzlich ist es da – das Wunder auf das wir alle so sehnsüchtig gehofft und gewartet haben. Nicht durch Menschenhand oder Intelligenz entstanden, sondern durch eine Laune der Natur oder doch, durch übernatürliche Kraft.
Die Erde atmet tief ein und ist in Rekonvaleszenz. Sie macht Urlaub. Von wem? Von uns, die Sie über Jahrzehnte überhört haben. Gestern schrieb ein junger Vater, dass er dieser Tage viel nachdenkt. Dazu postete er eine Bild eines fast menschenleeren Parks. Bäume ragten hoch empor und dazu sein Gesicht, dass leicht nachdenklich lächelnd in die Kamera sah. Ich schrieb darunter, dass auch ich nachdenke, dass ich noch soviel vorhabe, wie sehr ich mir wünsche, erleben zu dürfen, wie mein Enkel aufwächst, mich auf zukünftige Enkel freue, am Leben meiner Kinder noch lange teilhaben möchte, mit ihnen lachen, weinen und leben will und das ich mir wünsche zusammen mit meinem Mann so richtig alt werden zu dürfen. Bescheidene Wünsche und dennoch dieser Tage alles, was zählt. Ich bin nicht die Einzige, die sich sorgt. Angst geht um die Welt und die Frage nach Schuld und Sühne.
Es gibt keinen Schuldigen und sühnen, ja sühnen sollten wir alle.
Ich will glauben, dass wir Menschen wirklich daraus lernen
Ich will glauben, dass, wenn alles überstanden ist, wir nicht wieder da anfangen, wo wir aufgehört haben.
Ich will glauben, dass wir begriffen haben, dass niemand unwichtig und klein ist und das nicht unbedingt Individualismus zählt, sondern das allumfassende große WIR. Das nichts wirklich funktioniert ohne gegenseitige Hilfe.
Ich will glauben, dass wir verstehen, dass eine funktionierende Welt, eine auf der wir alle leben, nur dann lebenswert ist, wenn wir aufhören zu unterscheiden, zu hassen, zu selektieren, auszugrenzen, zu töten und andere Völker auszubeuten.
Ich will glauben, dass wir die Welt zukünftig besser behandeln als bislang.
Ich will glauben, dass, wenn alles vorbei ist, wir uns wirklich einander umarmen, unabhängig von Alter, Rasse und Religion.
Ich will an die Menschheit glauben.
Denn sollte all das am Ende nicht geschehen, ja dann haben wir Menschen trotz des Sieges über den Virus verloren.
In diesem Sinne
Herzlichst ihre / deine Lilo.