Petra Lies Seemann - Lilo 
Es gibt nicht Gutes, außer man tut es - und ich tue beides - singen und schreiben. 

 

Die Geschichte von Lolita- Tausendschön.

Ein schönes Kind, das war ich wahrlich nicht. Meine Mutter hatte, nachdem ich zum hundertsten Mal, beim Auskämmen meiner Haare geheult hatte, wie ein Schlosshund, mir einfach einen Topf auf den Kopf gesetzt und rigoros meine Haare, um den Rand des Topfes herum abgeschnitten. Dass ich damit aussah, wie die kleine Schwester von Prinz Eisenherz und mich vor Scham am liebsten versteckt hätte, beeindruckte sie nicht im Geringsten. Was ihr nicht gefiel, wurde kurzerhand geändert! So war Sie eben! Fortan musste ich nicht nur mit einem ungeliebten Haarschnitt, sondern obendrein auch noch in den verhassten selbstgestrickten Hosen, in denen meine stämmigen Beine noch viel kräftiger aussahen, in die Schule gehen. Dass meine Füße  für mein Alter viel zu groß waren und ich eine Brille trug, dessen Gläser dicker waren , als mein Daumen und meine Augen viel größer erscheinen ließen, als sie in Wirklichkeit waren, machte mir die Sache auch nicht leichter. Ich war nicht direkt hässlich. Aber ein schöner Schwan war ich auch nicht gerade.

 Ich muss so ungefähr acht oder neun Jahre alt gewesen sein, als ich eines Tages, auf dem Schulhof, in der großen Pause, zwei Mädchen aus der Parallelklasse hörte, wie sie abfällig über jemanden sprachen<< hast du ihre Augen gesehen? Das sind ja richtige Froschaugen! Igitt, wie schrecklich<< meinte die eine und die andere fügte mit kräftigem Kopfnicken hinzu<< und die Füße sind noch größer, als die meines Bruders und der ist schon fünfzehn<<.Dass sich beide über mich unterhalten hatten, wurde mir erst klar, als mir eine andere Schülerin, nach Schulschluss, auf dem Nachhausweg hinterherrief<< Froschauge, Froschauge, mit den langen Füßen<<. Von da an hasste ich alles an mir! Am liebsten wäre ich gar nicht mehr in die Schule gegangen und es verging kein Tag, an dem ich mir nicht wünschte, so schön wie Dornröschen zu sein, mit langen seidigen Haaren, zarten Füßen , um die mich jeder beneiden würde und von Augen, in denen sich jeder augenblicklich verlieren sollte. Doch so sehr ich es mir auch wünschte, nichts von alldem traf ein. Es blieb wie verhext. Mit den Jahren wurde aus meinem Pott-Schnitt, wie man diese Frisur nannte, zwar ein mittellanger Stufenschnitt, aber was blieb, waren Brille, großen Füße und Oberschenkel, die eher denen eines Elefanten ähnelten. Nein! Zu den Mädchen, denen die Jungen heimlich Zettel zuschoben, mit der Frage<< willst du mit mir gehen<< gehörte ich nicht und an Beleidigungen, wie Horn- Gesicht, Brillenschlange oder, die mit den großen Füßen, hatte ich mich längst gewöhnt. Sofern man sich überhaupt an etwas gewöhnen kann, was einen auf bitterer Weise verletzt. Ich ließ die Verletzungen dennoch nicht an mich heran, weil sie nie von denen kamen, die mir wichtig waren und mit denen ich befreundet war. Meinen Kummer lachte ich einfach weg und tat so, als würde mich nichts von alldem wirklich treffen. Manchmal, wenn ich über eine erneute Beleidigung traurig in der Küche saß, tröstete mich meine Mutter, mit den Worten<< aus dir wird auch noch ein schöner Schwan<< So vergingen die Jahre und aus mir, einem blassen, hässlichen Kind wurde ein Teenager, der ihre fehlende Schönheit mit allerlei Witz und Fröhlichkeit versuchte wett zu machen. Die mir zugedachte Rolle, eines Kumpels, nahm ich klaglos hin. Ich stand schmiere, wenn es darauf ankam, war meinen Freunden gegenüber loyal und gab, als besondere Zugabe ab und an die Kämpferin oder den Klassenclown.

Und dann, eines Tages, gleich nach den Weihnachtsferien kam Chantal. Schon allein ihr Name, war unter all den Silkes, Gabys, Sabines, Andrea und Birgits, meiner eingeschlossen, ungewöhnlich fremd und ein wenig exotisch. Lässig schlenderte sie hinter unserem Klassenlehrer, von dem ich immer annahm, dass er die personifiziere Wiedergeburt einer Lehrkraft aus < Wilhelminischer Zeit< gewesen sein musste, ins Klassenzimmer. Lächelnd stand sie vor dem Pult und betrachtete still die Reihen ihrer neuen Mitschüler. Für ein paar Minuten blieb es mucksmäuschenstill und nicht nur die Jungen sahen mit offenem Mund zu ihr hin. Wie sie so dastand, mit ihren langen dunkelblonden Haaren, die ihr bis zum Po herunterreichten und sich dort keck kräuselten, mit Augen, so dunkel und wunderschön, dass einem fast das Herz stehen blieb und langen schwarzen Wimpern, mit denen Sie mit Ihren zwölf Jahren klimperte, dass einem ganz schwindelig werden konnte, erschien Sie uns allen, wie eine Prinzessin aus 1001 Nacht.

 << nun stell dich den anderen vor und erzähle, etwas über dich << forderte Herr Buske sie mit gestrengem Unterton auf. Als sie anfing von fremden Ländern und Städten zu erzählen und, wo sie schon überall auf der Welt gelebt hatte, blieb uns allen vor Ehrfurcht die Spucke im Halse stecken. Von da an war ihr jeder auf seiner Art verfallen und es gab kein Mädchen, das schöner, exotischer und begehrenswerter war als Sie. Die erste Rangelei, um ihre Gunst, geschah bereits in der ersten Pause. Gleich zwei Jungen stritten sich heftig darum, wer neben ihr stehen durfte und, weil beide sich nicht einigen konnten, zog ein Dritter, mit einer gekonnten Kopfnuss den Sieg davon. So etwas beeindruckt Mädchen und Thomas, war wohl von da an so etwas wie ihr Freund. Kichernd standen wir Mädchen etwas abseits und beobachteten, wie die Jungs um sie buhlten. Birgit, unsere bis dahin Klassen- Schönste, zuckte mit ihren Schultern, drehte sich um und verließ die gaffende Meute. Von diesem Tag an war Chantal, die gekrönte Schönheit und niemand, nicht mal Birgit, die sonst keine Gelegenheit ausließ, um allen zu zeigen, dass sie jeden Jungen für sich gewinnen konnte, wenn sie es nur wollte,  machte ihr den Platz streitig.


Chantal, gehörte eindeutig zu den Mädchen, die sich ihrer Wirkung auf Jungen absolut bewusst war. Oh, ich glaube, Sie verstand es aufs Beste, wie man Jungen und Männer den Kopf verdrehen konnte. Einmal war ich Zeuge, wie eine ältere Schülerin, aus dem Abschlussjahrgang zu ihrer Freundin << schau mal, da geht, Fräulein Lolita<< sagte, als Chantal an Ihnen vorbeiging und dabei mit ihrem Hintern wackelte, als wäre es eine Kugel, die an einem Baum hing. Damals, wusste ich noch nicht, wie abfällig die Bezeichnung „ Lolita“ gemeint war. Ich wunderte mich nur, dass man sie so nannte. Den meisten jedoch war es egal und zu denen zu gehören, die sich in ihrem Dunstkreis sonnen konnten, gleich einem Ritterschlag. Jeder wollte mit ihr befreundet sein. Nicht nur, weil sie so schön und irgendwie anders, als wir anderen war, sondern, weil sie alle Freiheiten hatte, von denen wir anderen nur träumen konnten. Und ich bewunderte Sie für ihre Schönheit und dafür, wie sie war. Insgeheim wünschte ich mir nur ein wenig so auszusehen und zu sein, wie Sie. 

Jeden Tag lud Chantal zwei oder drei Auserwählte zu sich nachhause ein. Wir andern erfuhren am nächsten Tag, wenn uns mit leuchtenden Augen und etwas Neid davon erzählt wurde, wie schön es gewesen war. Es gab nichts, was Chantal nicht besaß und da ihre Eltern nie zu Hause waren, gab es auch niemanden, der ihr etwas verbieten konnte. Schon damals bestellte sie Pizza für alle oder lud die  Auserwählten einfach zum Italiener um die Ecke ein. Und während wir anderen, Jeans von Palomino und Schuhen von Armbruster trugen, trug sie teure und außergewöhnliche Designer- Klamotten, von Herstellern, dessen Namen man nicht kannte und noch weniger aussprechen konnte. Ja! Chantal, war etwas ganz Besonderes. Jeder wartete insgeheim darauf von Ihr eingeladen zu werden und irgendwann galten diejenigen, die es noch nicht geschafft hatten oder von Ihr erst gar nicht beachtet wurden, als eine Art "Aussätzige". Ich glaube, ich brauche nicht zu erwähnen, dass ich nicht zu den Auserwählten gehörte, ebenso wenig, wie meine Freundin Doris, mit der ich bislang alles geteilt und jedes Geheimnis bewahrt hatte.

Und dann kam der Tag, der alles änderte! Es muss so kurz vor Pfingsten gewesen sein. Ich weiß es deshalb so genau, weil es immer die Zeit war, in der meine Mutter mit meinen Geschwistern und mir in die Stadt fuhr , um zwei neue Kleider zu kaufen, damit wir zum Pfingstspaziergang ordentlich und adrett aussahen. Sie nannte es immer << ihr Pfingstritual, aus längst vergangenen Zeiten<<. Als wir kleiner waren, trugen wir immer die gleichen Kleider, später durften sich meine älteren Schwestern dann schon mal ein Kleid aussuchen, was sie erwachsener aussehen ließ. Nur bei mir da gab es noch keine Kompromisse. In diesem Jahr fiel die Wahl auf ein blaues Kleid mit einem geblümten Saum und kleinen Puffärmeln und eines, aus einem leichten hellgrünen Stoff, mit kleinen rosafarbenen Blüten am Kragen. Mutter fand sie todschick und ich kam mir vor, wie ein Pfingstochse, zum Almabtrieb. Hinterher gönnten wir uns immer eine kleine Erfrischung und schlenderten durch die Süßigkeiten Abteilung eines großen Warenhauses.  Das liebte ich am meisten an diesem ansonsten lästigen Ritual. Zu Pfingsten und Weihnachten durften wir uns immer die leckersten Pralinen und Bonbons, die man sich denken konnte, aussuchen. Immer nur 150 Gramm für jeden von uns. Mehr gab das Portmonnaie nicht her! Langsam ging ich den Gang entlang und betrachtete die Bonbons in bunten glänzendem Papier. Die Auswahl fiel mir nie leicht, wenn man sich nur wenig aussuchen darf, muss jede Überlegung doppelt gut getroffen werden. Ich war noch ganz versunken , in meiner Überlegung, ob ich nun lieber die blauen oder rot eingewickelten Bonbons nehmen oder mich doch lieber für die Pralinen, mit Nougatfüllung entscheiden sollte, als ich plötzlich jemand neben mir spürte. Im ersten Moment, wusste ich gar nicht, was ich sagen sollte, als ich erkannte, dass es Chantal war, die da lässig, mit einer Hand in ihrer Hosentasche vor mir stand und grinste, wie ein Pfefferkuchenpferd. In der Schule sprachen wir nie auch nur ein einziges Wort miteinander und bislang glaubte ich auch, dass Sie von mir auch nie nur die leiseste Notiz genommen hatte. Und nun stand sie neben mir und lächelte mich an.

<< und, hast du schon etwas gefunden<< fragte Sie neugierig. << Nein, noch nicht<< erwiderte ich viel zu zaghaft. Und dann zeigte sie mir plötzlich die Beule in ihrer Hosentasche. << da< <deutete Sie mit ihrer freien Hand und zwinkerte mir dabei verschwörerisch zu. << Glaub ja nicht, ich könnte es mir nicht leisten. Aber hier geht es so einfach, glaub es mir, man wird nie erwischt<< sagte Sie, ohne dabei einer Spur verlegen zu sein. Und mir wurde schlagartig klar, dass unsere, sonst über alle stehende Chantal nichts weiter ist, als eine Diebin. Nicht, dass ich nicht selbst schon einmal lange Finger gemacht hätte. Aber, das war etwas ganz anderes und gehörte, wie die Klingelstreiche und das Ärgern des Nachbarhundes, zu unserer Straße dazu. Es war eine Art Mutprobe, die jedes Kind, spätestens mit Beginn der Schule, zu bestehen hatte. Nur, wer bei Frau Scholl, der Besitzern des kleinen Tante- Emma- Ladens, mehrere Lutscher oder eine Tüte Bonbon mopste, gehörte zur Straßengang. Wobei eine richtige Straßengang das waren wir nun wirklich nicht. Im Grunde waren wir Kinder einer Straße , die sich zum Spielen trafen und ab und an kindliche Dummheiten machten. Dass  Fr. Scholl sich das Geld für jede Mutproben- Bonbon- Tüte und  jeden Lutscher, bei unseren Eltern zurückholte, davon ahnten wir Kinder natürlich nichts. Das hier jedoch war etwas vollkommen anderes und es zu wissen machte mich augenblicklich zum Mittäter. Vorsichtig schaute ich mich um. Meine Mutter stand noch immer an der Verkaufstheke, mit den besonders teuren Pralinen und konnte sich wohl nicht  entscheiden, welche Pralinen sie nun nehmen sollte. Von da aus drohte uns also keine Gefahr entdeckt zu werden. Auch von einer Verkäuferin, die uns beide auf frischer Tat hätte ertappen können, war weit und breit nichts zu sehen. Die Luft war also rein!  << ich hab nichts gesehen<< hörte ich mich plötzlich sagen und fügte rasch und auch nur um Chantal zu versichern, dass ihr Geheimnis bei mir gut aufgehoben war, ein rasches << ich sage nichts<< hinzu. Chantal stand noch immer lächelnd vor mir. Für einen kurzen Augenblick hatte ich das Gefühl, als würden sich ihre Augen durch mich durchbohren und einen tiefen Krater hinterlassen. Und dann, steckte Sie mir plötzlich einen, in weißem Papier eingewickelten Bonbon in meine Hosentasche. << hier probiere, schmecken irre gut<<. << Wir sehen uns Montag<< sagte Sie noch und ging an mir vorbei, als wäre nichts geschehen.

Den ganzen Nachmittag und auch noch am nächsten Tag musste ich an Sie denken. Ich weiß nicht, wie oft ich daran dachte, was wohl am Montag mit mir passieren und, ob sie mich darauf ansprechen würde? In der Nacht schlief ich nicht gut und obwohl nicht ich diejenige gewesen war, die geklaut hatte, kam ich mir dennoch vor, wie ein gemeiner Dieb.

Und dann geschah das Unfassbare. Gleich zu Beginn der ersten kleinen Pause kam Sie zu mir << frag mal deine Eltern, ob du morgen mit zu mir darfst<< Ich traute meinen Ohren nicht. War wirklich ich gemeint? Innerlich hüpfte ich vor Freude und ich gebe zu, ihr Ritterschlag traf mich mitten ins Herz. 

Von da an war ich beinah täglich bei ihr. Nicht immer gleich nach der Schule. Aber so oft ich durfte und konnte, saß ich mit ihr und mindestens zwei weiteren Mädchen in ihrem Zimmer. Manchmal saßen wir auch im Wohnzimmer ihrer Eltern, auf einem breiten Sofa, aus rot glänzendem Stoff, der so edel aussah, dass man sich gar nicht traute hinzusetzen, aus Angst man könnte etwas schmutzig machen oder alleine vom Sitzen etwas beschädigen. Oh ja, es war alles zauberhaft und so teuer eingerichtet, dass einem die Luft wegblieb. So einen Luxus kannte ich von Zuhause nicht. Wir saßen auf einer Ausziehcouch aus graublauen Cordstoff, die meine Eltern jede Nacht zum Schlafen auszogen oder auf Cocktail- Sesseln, denen noch der Mief, der sechziger anhaftete und wir Mädchen mussten uns ein Zimmer zu viert teilen, wogegen Chantal ein ganzes Reich mit allerlei Schätzen für sich hatte. Die Nachmittage bei ihr vergingen, wie im Fluge. Wir tranken verbotene Coke, aßen Schokolade oder bestellten Pizza und manchmal probierten wir den Schmuck ihrer Mutter aus und trugen deren hohe Schuhe. Natürlich passten mir die Schuhe nicht. Meine Schuhgröße glich eher denen eines Elbkahns und ihre Mutter hatte so kleine Schuhe, dass sie mir nicht mal bis zur Hacke reichten. Chantal, lachte immer und sagte << Rukidiku<< Hatten wir  Langeweile, was selten vorkam, da Chantal immer irgendetwas Aufregendes zu erzählen hatte, schlug sie das Telefon- Spiel vor. Dann  wählte Sie  eine x-beliebige Nummer und wir anderen mussten irgendetwas Verbotenes oder dummes ins Telefon sagen. Manchmal, behielt aber auch Chantal den Hörer in der Hand. Wir Mädchen wussten immer gleich, ob am anderen Ende der Leitung ein Mann gewesen war. Ihr << hallo << war dann mehr ein Hauchen, als ein ausgesprochenes Wort. Wir anderen kringelnden uns vor Lachen, wenn sie fast lüstern in den Hörer hauchte << oh Cherie , ich dich auch<<. Einmal , wir saßen gerade alle zusammen und probierten zum ersten Mal im Leben, ein Glas Wein, den ihr Vater im Schrank stehen gehabt hatte, nahm sie mir meine Brille ab, schaute mir minutenlang ins Gesicht , seufzte und verkündete dann gönnerhaft<< weißt du, du bist gar nicht so hässlich. Du darfst eben keine Brille tragen<<. Ich klotzte sie an, wie ein Mondkalb und war auch noch dankbar dafür. Natürlich konnte ich auf meine Brille nicht verzichten. Immerhin war ich blind wie ein Maulwurf und hätte nicht mal eine Stunde unbeschadet überlebt. Dennoch von diesem Tag an empfand ich meine Brille, als das größte Übel überhaupt.

Als die Tage länger wurden und wir die großen Ferien herbeisehnten, wie die Engel das Weihnachtsfest, beschloss Chantal eines Nachmittags, dass wir uns doch zukünftig auch mit den Jungs treffen sollten. Was Chantal wollte, wurde getan und das ohne Widerrede. Drei Tage später war es dann soweit. Mann, was war ich aufgeregt! Ich zusammen mit den Jungs und dann auch noch auf einem Hinterhof, wo uns keiner sehen konnte. Ihrem Ruf, waren beinah alle gefolgt. Es waren ebenso die Jungen da, die ich toll fand, als auch die, die ich ebenso wenig beachtete, wie sie mich. Wir spielten Flaschendrehen. Die Regeln waren ziemlich einfach. Immer derjenige auf den der Flaschenhals zeigte, musste eine Aufgabe erfüllen, die sich die anderen zuvor ausgedacht hatten. Meistenteils jedoch war es Chantal, die sich irgendetwas ausdachte und wir anderen folgten ihr, wie eine Herde dummer Schafe. Niemand wollte als Spielverderber gelten oder in ihrer Gunst sinken. Irgendwann zeigte  der Flaschenhals auf Thomas und Chantal beschloss, dass er mich küssen sollte. << die küssen niemals. Such dir was anderes aus << verkündete Thomas entrüstet und verschränkte seine Arme demonstrativ vor seinen Brustkorb. Ein klares Zeichen, dass er sich ihrem Willen nicht fügen würde. Ich glaube, alle fanden das mutig. Man widersprach Chantal einfach nicht!  Auf dem Nachhauseweg tröstete Sie mich und meinte, in einem zuckersüßen Tonfall<< mach dir nichts draus. Irgendwann küsst dich jemand, wirst schon sehen<< Ich zuckte, aus alter Gewohnheit,  mit den Schultern und lächelte die Schmach einfach weg. Doch schon zwei Tage später verstand ich die Welt nicht mehr. Noch vor Unterrichtsbeginn kam Chantal zu mir, sah mich mit einem Blick an, der mich ebenso gut hätte töten können und raunte mir leise aber nicht ohne gewissen Zorn, ins Ohr << du hast nicht dicht gehalten<<. Erstaunt, ob dieser Anschuldigung sah ich Sie fragend an. >> Guck nicht so, wie ein Affe<< sagte Sie schon etwas lauter und mit bösem Unterton und ich wusste überhaupt nicht, wovon sie eigentlich sprach. <<hast du deinen Eltern etwas vom Klauen erzählt? << bohrte sie weiter. << Nein! Hab ich nicht! So etwas würde ich niemals tun<< beteuerte ich meine Unschuld und noch bevor ich den Satz beendet hatte kullerten mir auch schon die ersten Tränen ungeniert an meiner Wange herunter. << wirklich nicht<< schwor ich unter Tränen. Und dann wurde sie plötzlich weich, wie Butter. Erzählte, dass ihre Eltern ihr gestern einen riesengroßen Ärger bereitet hätten. Man hätte ihnen natürlich im Vertrauen und hinter vorgehaltener Hand gesagt, dass ihre Tochter stehlen würde. Regelmäßig im Kaufhaus, in der Süßwaren- Abteilung und man hätte auch schon gesehen, wie Sie Pullover und andere Dinge einfach so einsteckte, ohne zu bezahlen. Natürlich hatte sie Stubenarrest und man würde sich etwas überlegen müssen. Ich weiß nicht, wie oft ich meine Unschuld beteuerte , dass ich niemanden auch nur ein Sterbenswörtchen gesagt hätte und , dass Sie doch meine Freundin wäre und ich Freunde doch nie verrate würde, egal, was sie tun oder sagen. Plötzlich lächelte Sie mich an, drückte mich mütterlich an ihre Brust und verkündete so laut, dass alle es hören konnten, auch die, die von unserm Streit noch nichts mitbekommen hatten, dass Sie mir glauben würde. Ich war heilfroh und meine kleine Welt schien wieder vollkommen in Ordnung zu sein. Sie als Freundin zu verlieren, wolle ich auf keinen Fall. Durch Chantal hatte ich das Gefühl nicht mehr ganz das hässliche Entlein zu sein und ein wenig von ihrem Glanz färbte sich, bestimmt irgendwann auch auf mich ab.

Zu Ihrem Geburtstag, zwei Tage vor den großen Sommerferien, war ich natürlich eingeladen. Alles schien wie früher zu sein und nichts, weder Ihr Verhalten noch Ihre Worte, deuteten darauf hin, dass zwischen uns nicht alles in Ordnung sein würde. Es war ein herrlicher, schöner und aufregender Tag. Wir waren im Kino und hinterher beim Italiener. Das erste Mal, dass ich an einem schön gedeckten Tisch, in einem Restaurant saß. Der Kellner begrüßte uns mit den wundervollen Worten<< Bella Signorina<< und, wenn wir etwas bestellen oder fragten, folgte ein ebenso wohlklingendes und fremdartiges << per favore, bellissima signorina<<. Wir Mädchen fühlten uns, wie kleine Königinnen. Chantals Mutter sah ich zum ersten Mal und obwohl ich so gar keine Vorstellung hatte, wie Sie hätte aussehen können, war ich vollkommen hin und weg. Sie war eine großgewachsene Frau, mit beinah filigraner Figur. Zu ihrem dunkelblauen Kostüm, mit silbernen Knöpfen, die so wunderbar zu Ihren Ohrringen und Armbändern passten, hatte Sie Ihre blonden Haare aufwendig hochgesteckt und Ihre kleinen schmalen Füße steckten in hohen schwarzen Schuhen, auf denen bestimmt niemand außer Sie  gehen konnte. Meine Mutter trug meistenteils einen einfachen Rock und immer nur Galoschen, die waren am bequemsten und ihre Dauerwelle machte, Sie sich selber << ist billiger<< sagte Sie immer, wenn sie in der Küche saß, mit Trockenhaube auf dem Kopf. Ach, konnte es etwas Schöneres geben, als eine Freundin wie Chantal zu haben? Ich, das hässliche Entlein, Sie, der aufblühende Schwan und Ihre Mutter, die vollkommene Schönheit. Ich dachte, niemals glücklicher sein zu können, als damals, in dem kleinen italienischen Restaurant.

Am nächsten Tag, mitten in der Mathematikstunde, steckte mir Doris, mit sauertöpfischer Miene, einen Zettel zu. Doris und Chantal mochten sich nicht. Doris verstand es nicht, dass ich mich so gerne mit Chantal abgab und Chantal wiederum verstand nicht, was ich an Doris fand und, wie so eine meine Freundin sein konnte? Ich mochte Doris, so viel stand fest. Chantal hingegen bewunderte ich und irgendwie fühlte ich mich, seit ich einer Ihrer Günstlinge war, etwas größer, hübscher und anders, als sonst. Natürlich kam der Zettel  von Ihr und es stand nichts weiter drauf als << heute Nachmittag, 15 Uhr, übliche Ecke, freu Dich! <<.  An Lernen war an diesem Tag  nicht zu denken, so aufgeregt war ich und ich stellte mir die ganze Zeit nur die eine einzige Frage: << was hatte Ihr" freu Dich" zu bedeuten?  Ach ,sicherlich wollte Sie einfach nur die Zeit mit mir verbringen, beruhigte ich mich. Es war unser letzter Schultag vor den großen Ferien und man würde sich erst zu Beginn, des neuen Schuljahres wiedersehen, denn ich wusste, dass Sie mit Ihren Eltern eine längere Reise in die USA machen wollte. Meine Urlaubsreisen gingen nur an den großen See und das auch nur für einen Tag und auch nur dann, wenn meine Schwester Lust hatte, diesen langen Weg per Fahrrad mit uns zurückzulegen. Drei Wochen wurde ich mal wieder mit der Deutschen Hilfsgemeinschaft verschickt. Ich hasste es! Schon im letzten Jahr hatte es mir überhaupt nicht gefallen. Aber meine Eltern meinten, das es mir gut tun würde. In diesem Jahr ging es nach Eutin. Was ist schon Eutin, wenn man nach Amerika reist? Amerika, war für mich so weit entfernt, wie der Mond und eigentlich kannte ich dieses Land nur von den vielen alten Spielfilmen, die meine Mutter so gerne im Fernsehen sah. Manchmal, wenn es einen mit Doris Day oder Gary Grant gab, gucke ich bereitwillig mit. Ach, in ferne Länder zu reisen musste verdammt aufregend sein!

Am Nachmittag kam ich nicht pünktlich, wie von mir erwartet. Tante Ruth, eine alte Bekannte meiner Mutter, war überraschend vorbeigekommen und lud, wie so oft einen ganzen Koffer mit getragener Kinderkleidung bei uns ab. << erst angucken und anprobieren<< gebot meine Mutter, dann kannst du zu deinen Freunden. Also zog ich widerwillig ein Kleid nach dem anderen an, probierte Hosen und Jacken für den Herbst und wünschte mir nichts Sehnlicheres, als endlich loszukommen. << Mensch, was bist, du gewachsen!<< tönte Tante Ruth missmutig und zerrte ärgerlich am Saum eines Kleides. Was konnte ich dafür, wenn ich wachse, dachte ich so bei mir. Soll Sie doch ihre olle Kleidung für sich behalten! Damit hatte sich hoffentlich, die Sache ein für alle Mal erledigt, dachte ich innerlich frohlockend. Nie wieder getragene Kinderkleidung. Von mir aus hätte ich bis zum Himmel wachsen können, nur um den alten Kleidern davon zukommen. Als ich endlich gehen durfte, nachdem wirklich nichts Passendes für mich im Koffer war, musste ich mich ganz schön sputen. Der Weg, war ziemlich lang. Warum musste ich auch soweit von der Schule entfernt wohnen? Alle anderen wohnten, um unsere Schule herum und nur ich durfte tagtäglich eine halbe Stunde Fußweg hinter mich bringen und das nur, weil ich einmal versagt hatte. Im letzten Halbjahr, der vierten Klasse, hatten meine Eltern mich, wie damals viele meines Alters, für das Gymnasium angemeldet. Ich war eigentlich eine gute Schülerin. Nur zu viel Unruhe machte mich nervös. Ich konnte mich dann einfach nicht richtig konzentrieren. War es etwa mein Fehler, dass genau das geschah und wie eng gedrängt in einem Klassenzimmer saßen und es gleich acht neue Klassen gab, die am Gymnasium angemeldet wurden? Es war dort, wie in einem Bienenstock. Ständig grölte irgendjemand auf den Fluren herum, ständig war es im Unterricht unruhig und mit meinen Freundinnen, nicht mal mit Martina, meiner allerbesten Freundin, seit unserer Einschulung, war ich in eine Klasse gekommen. Ich war kreuzunglücklich und , als ich dann im Herbst so richtig krank wurde und mit Lungenentzündung , die einfach nicht heilen wollte, beinah zwei Monate zu Hause bleiben musste, hab ich den Anschluss einfach verpasst. Das Ende vom Lied war die Umschulung auf eine andere Schule. Ob aus Scham oder, weil meine Mutter es gut mit mir meinte, nicht wieder ins alte Umfeld zu müssen, kann ich nicht mal sagen. Aber, die neue Schule, in der ich dann ab der zweiten Hälfte der fünften Klasse gehen musste, lag einen strammen Fußmarsch von uns entfernt. Über den kurzen Aufenthalt am Gymnasium sprachen wir zu Hause nie wieder ein Wort. Ich glaube schon, dass meine Mutter, ganz besonders Sie, von mir enttäuscht war. Und, wenn ich ehrlich bin, war ich es von mir selbst auch. Lehrerin konnte ich nun nicht mehr werden. Dabei wäre ich es so gerne geworden, damals  im Sommer 1972. 

Ich war die ganze Strecke gelaufen und war völlig außer Atem, als ich endlich unseren Hinterhof erreichte. Natürlich, waren schon alle da. Thomas, der mich nicht küssen wollte, saß neben Chantal und dann entdeckte ich einen Jungen, den ich zuvor nur von weitem gesehen hatte. Ich wusste, dass er mit seiner Familie im letzten Sommer, als Spätaussiedler, aus Russland nach Deutschland eingewandert war. Ein paar Mal hatte ich ihn mit den anderen Jungs gesehen und irgendwie fand ich ihn schon etwas merkwürdig. Sergej, war kein Schüler unserer Schule. Sein Deutsch war immer noch gebrochen und vielleicht, war sein Verstand auch nicht so helle. Würde man sonst auf die Sonderschule gehen müssen? Na ja, sollte mir eigentlich egal sein. Ich und fast alle meine Freundinnen würden nach den Sommerferien zur Realschule gehen. Nicht, dass wir dafür die Schule hätten wechseln müssen. Wir brauchten nur in ein anderes Gebäude schräg gegenüber des Schulhofes. Klar, war die mittlere Reife nicht so gut, wie ein späteres Abitur. Aber immerhin besser, als Hauptschule und tausendmal besser, als die Sonderschule. Ich konnte mir nicht vorstellen, was der hier zu suchen hatte.  << Du kommst zu spät<< begrüßte Chantal mich und lächelte dabei so seltsam, dass mir irgendwie ganz mulmig wurde. << ging nicht früher, kam, was dazwischen<< murmelte ich zur Entschuldigung und setzte mich still in den Kreis, zu den anderen. Vor ein paar Wochen hörte ich zufällig, wie meine Mutter sich mit unserer Nachbarin unterhielt und während sie redeten, fiel irgendwann der Begriff Bauchgefühl. Ich fand den Ausdruck witzig und eigentlich hatte ich mir vorgenommen nachzufragen, was genau damit gemeint gewesen war. Und nun saß ich hier, im Hinterhof, zwischen all den Jungs und Mädchen und plötzlich wurde mir ganz klar, was damit gemeint war. Auch in meinem Bauch spürte ich auf einmal so ein eigenartiges Gefühl, als würde mich etwas warnen wollen. Nur wovor?  Wir saßen schon eine ganze Weile und quatschten über all die Sachen, die für uns wichtig waren. Sergej, erzählte über Russland und, wie sein Leben dort gewesen war. Chantal, nickte wissend mit dem Kopf und tönte dann irgendwann, dass Sie auch schon mal in Moskau gewesen war und was für eine wundervolle Stadt es doch wäre. Den weitesten Weg, den ich bis zu dem Tag hinter mich gebracht hatte, war eine Bahn- Fahrt nach Buxtehude. Ich wusste nicht, wie Moskau war, aber Buxtehude hatte mir gefallen!  Plötzlich sprang Sie auf, juchzte und tänzelte von einem Bein auf das andere, dabei wippten Ihre blonden Locken auf und ab. << ich weiß, was wir machen<< rief Sie und sah uns anderen mit einem schelmischen Lächeln an. << Wir spielen, „ Wer hat es schon getan?“ << .Niemand kannte dieses Spiel und ich glaube, dass Sie es sich in dem Moment, als Sie sich tänzelnd vor uns hin und her bewegte ausgedacht hatte. Als Erster war Dirk an der Reihe und, als Chantal Ihn fragte, ob er schon jemals Sex gehabt hatte, lief er im Gesicht an, wie eine reife Tomate. Dennoch lautete seine Antwort kurz und bündig<< klar doch << und ich glaube, bis heute, dass er gelogen hat. Reihum ging die Fragerei. Immer musste derjenige, der eine Frage beantwortet hatte, einem anderen eine Frage stellen. Irgendwann, war die Reihe an Sergej. Thomas, musste Ihm eine Frage stellen und ich glaube, es war pure Absicht, dass er seinen Namen, anstatt mit dem schönen französischem Klang dann doch eher norddeutsch breit aussprach >> Särge. Hast Du jemals schon ein Mädchen geküsst? <<  War Dirk zuvor eine reife Tomate so war Sergej, in diesem Augenblick, die personifizierte dunkelrot durchzogene Litfaßsäule. Zuerst brachte er gar kein Wort heraus und dann hörten wir plötzlich ein kleinlautes << Nein<<. Alle lachten laut auf, ob dieser Antwort und ich dachte nur, wie blöde! Ich hatte bislang auch noch niemanden geküsst und ehrlich war es in unserem Alter alles andere, als schlimm. << Er muss nun küssen, küssen , küssen<< riefen alle , wie im Chor und dann stand Chantal auf, stellte sich vor den armen Sergej, klatschte vor Freude, in ihre Hände und bestand darauf, dass er es jetzt auf der Stelle tun müsste. << aber wen? << fragte Thomas und sah zu Chantal hoch, die dastand , wie eine Rakete kurz vor ihrem Start. << Lass mich mal überlegen! << antwortete Sie und tippte sich dabei so eigenartig an Ihre Nasenspitze. << Ich weiß<< rief sie wenige Minuten später in die Runde. << Ich drehe mich mit geschlossenen Augen im Kreis und zähle dabei bis zwanzig. Diejenige, wo ich dann stehen bleib, die muss Sergej küssen<< verkündete sie stolz, als hätte sie gerade eben eine bahn durchbrechende Wissenschaft entdeckt. < Ja. Aber, was ist mit uns Jungen? << wand Thomas ein << Wir müssen Sergej jawohl nicht küssen! << und verzog eine Miene, als hätte er gleich einen ganzen Topf Sauerkraut ohne Zucker gegessen. << Natürlich nicht! Die Mädchen machen einen  Kreis - nur der zählt! << beschloss Sie bestimmend.

 Und so geschah es dann auch. Chantal drehte sich langsam um Ihe eigene Achse und zählte bis zwanzig. Als Sie stehen blieb, zeigte Ihr Zeigefinger direkt auf mich und mir blieb beinah das Herz stehen.  << ach, wie fein<< rief Sie aus und dann johlten alle um die Wette << sie müssen sich küssen<<. Natürlich war das nichts, was Sergej und ich tun wollten und am liebsten wäre uns gewesen, wenn sich jetzt in diesem Moment ein tiefer Graben aufgetan hätte, in dem wir beide hätten verschwinden können. Aber so schnell würden wir nicht aus der Sache herauskommen, das war uns beiden klar. Stocksteif blieben wir sitzen und weder Sergej noch ich machte irgendwelche Anstalten an diesem Zustand etwas zu verändern. << Ihr seid Spielverderber! Das ist unfair! Spiel ist Spiel und Regeln sind Regeln! << riefen die anderen durcheinander. Und dann stand Sergej plötzlich auf. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals und ich dachte wirklich, er würde mich packen und dann küssen. Doch er stand einfach nur da und tat nichts. Und dann geschah es. Bevor wir anderen überhaupt begriffen, was passiert war, lag er auch schon neben mir auf dem Boden. Über ihm Thomas und Chantal, die mit vereinten Kräften an ihm zerrten und solange an ihm zogen, bis sein Körper fast auf meinem lag. Thomas hielt Sergej fest und drückte sein Gewicht nach unten. Chantal hielt ihrerseits mich im festen Klammergriff und zog mich ebenso zu Boden, wie Thomas es zuvor mit Sergej getan hatte. Wir saßen, in der Falle! Unaufhörlich drang der Ruf << küssen, küssen<< in unsere Ohren. Dann drückte Thomas, Sergej`s Gesicht auf meines. Ich spürte seine nassen Lippen. So oder so ähnlich musste sich die Prinzessin, im Froschkönig, gefühlt haben, als der Frosch sie zwang ihn zu küssen. Plötzlich rief Thomas<< du Hirnie, mit Zunge, sonst ist es nicht richtig<< Warum Sergej seinen Mund öffnete und mir seine Zunge tief in den Hals schob, blieb mir ein Leben lang ein Rätsel. Er hätte sich doch auch einfach weigern können. Man hätte ihm ja schlecht die Zunge herausziehen können, oder? Und doch spürte ich seine feuchte Zunge auf meiner und empfand nur Ekel dabei. Ich glaube,Chantal war es, die dann seinen Mund noch fester auf meinen drückte und dabei gemein auflachte. Meine Brille verrutschte und fiel seitwärts zu Boden. Als ich meine Augen für  einen Moment öffnete, sah ich in gleich drei wässrige Augen. Warum musste ich auch schielen, wenn etwas so nah vor meinem Gesicht war? Drei Augen und eine nasse Zunge, das war einfach zu viel. Mit aller Kraft versuchte ich mich zu wehren und aus dem Klammergriff zu befreien. Aber so sehr ich mich auch bemühte, ich schaffte es einfach nicht. Und dann spürte ich etwas Kaltes und Hartes in meinem Mund. Es hing noch an meinen Lippen, als Thomas, Sergej losließ und er sich zitternd vor mich hinhockte. Wütend schlug er mit den Händen nach Thomas, der keuchend hinter ihm stand. Den Tränen nahe raunte er irgendetwas in seiner Sprache und dann schoss er plötzlich blitzschnell hoch und lief davon. Ich lag atemlos auf dem Boden und traute mich nicht, dieses ekelige Etwas, dass halb aus meinem Mund ragte und halb an meiner Lippe klebte anzufassen. Johlend hörte ich die anderen rufen<< igitt, ein Gebiss- er trägt ein Gebiss! <<

Niemals zuvor war ich jemals so gedemütigt worden. Die Beleidigungen, der vergangenen Jahre, waren dagegen eine Leichtigkeit gewesen. Weinend lag ich da und es dauerte gefühlte Stunden, bis ich mich aufrappeln und überhaupt irgendeinen klaren Gedanken fassen konnte. Vor Scham hätte ich auf der Stelle sterben können. Und dann sah ich einen Schatten, der sich allmählich über mich beugte. Es war Chantals Gesicht, das mich höhnisch ansah. Die kleine Ohrfeige, die Sie mir auf meine rechte Wange schlug, bemerkte ich kaum. Aber ihre Worte brannten sich, wie Feuer,  in mein Gedächtnis ein << niemand schwärzt mich an, merk dir das! << 

Den ganzen Weg nachhause flennte ich, wie ein kleines Baby. Mir, war es egal, was die Leute von mir dachten. Ich wollte nur noch in mein Zimmer und mich dort für den Rest meines Lebens verstecken. An Sergej verschwendete ich keinen einzigen Gedanken und, wie es ihm ging, war mir vollkommen egal. Ich war so wütend! Zornig auf Ihn , auf Chantal, auf Thomas und auch auf all die anderen, die nichts getan hatten, um mir zu helfen. Die Kinderlandverschickung, wenige Tage später, empfand ich als willkommene Zuflucht. Sie ließ mich zwar meinen Kummer nicht ganz vergessen aber zu mindestens dachte ich nicht mehr jeden Tag daran. Auch zu meiner Freundin, die ich wegen Chantal vernachlässigt hatte, hatte ich wieder mehr Kontakt. Doris, war mir zwar noch immer etwas böse, aber irgendwie schafften wir es über den Sommer unsere alte Vertrautheit wiederherzustellen. Es tat so gut, sie zu haben!  Am Ende der Ferien ging es mir besser. Aber der Gedanke Chantal wiederzusehen bereitete mir dennoch Magenschmerzen. Am liebsten war es mir, wenn Sie sich einfach in Luft auflösen würde und ich Sie nie wiedersehen müsste.

Und das musste ich auch nicht. Über unseren neuen Klassenlehrer, den wir Mädchen alle wahnsinnig toll fanden, erfuhren wir,  dass Ihre Eltern wieder in Asien lebten und das sie ihre Tochter, wegen der mangelnden Zeit, ins Internat in die Schweiz geschickt hätten. << armes Ding<< sagte Herr Spitzel, als er fertig war und ich dachte nur<< Recht so. Soll sie da ruhig vor sich hin schmoren und verfaulen<<

Sergej, sah ich ab und an noch auf der Straße. Wir haben nie auch nur ein einziges Wort über diese Sache verloren und taten eher so, als wären wir uns niemals im Leben begegnet. Knapp ein Jahr nach dieser unleidlichen Geschichte erfuhren wir, über einen Jungen, der Sergej besser kannte, als wir anderen zusammen und, der neu in die Parallelklasse ging, vom Umstand des Gebisses. Ein Unfall in Kindertagen, bei dem Sergej sein oberes Gebiss verloren hatte, war schuld daran. Erst jetzt tat er mir unendlich leid und ich schämte mich dafür, dass ich ihm so böse gewesen war.

Gottlob, bin ich nie wieder einem Mädchen, wie Chantal begegnet. Manchmal, wenn ich an Begebenheiten meiner Kindheit dachte, fragte ich mich, was wohl aus Ihr geworden war und ob Sie vielleicht doch irgendwo, in der Schweiz oder sonst wo auf der Welt ihr Herz gefunden hat? Zu gönnen wäre es Ihr, weil ohne, war das Leben verdammt einsam. Letztendlich jedoch ist es egal, was aus Ihr geworden ist, da sich unsere Wege nie wieder trafen. Wer weiß, wo Sie jetzt lebte und, ob Sie überhaupt jemals glücklich geworden ist? Im Grunde war Sie ein armes Hascherl. Ein Zimmer voller Reichtum, viel Geld, die halbe Welt bereist und dennoch alleine, wie man nur alleine sein konnte. Da hatte ich es doch schon viel besser. Gut, reich waren wir nie und es gab vieles, auf das ich verzichten musste und trotz der vielen Versicherungen meiner Mutter, ist aus mir auch nie wirklich ein schöner Schwan geworden. Aber auch das ist nicht wichtig! Freunde, ein zufriedenes Leben und Glück kann man sich nicht kaufen. Weder mit Schönheit noch mit Geld. Eigentlich hat das Leben, bis auf ein paar Ausnahmen, es gut mit mir gemeint.

Mit siebzehn tauschte ich meine dicke Brille gegen Kontaktlinsen ein und auch meine Pfunde wurden mit zunehmenden Alter weniger. Meine Beine? Nun, die blieben dicker, als ich es mir jemals erhofft hatte. Aber haben Elefanten nicht auch ihren Charme? Mit Doris habe ich die schönsten Stunden verbracht, über die erste Liebe nachgedacht  und wir haben uns gegenseitig geschworen niemals unsere Unschuld zu verlieren. Neben einigen anderen Sachen war auch das etwas, was wir nicht ganz einhalten konnten. Wir waren auch zusammen,mit fünfzehn Jahren,  das erste Mal betrunken. Man sollte eben doch nicht so viel durcheinander trinken und, wenn einer von uns Kummer hatte, waren wir füreinander da. Alles, war so einfach zwischen uns! Über die Sache, mit dem erzwungenen Kuss, haben Doris und ich nur ein einziges Mal geredet und als ich Ihr damals anvertraute, wie beschämt ich mich gefühlt hatte, war alles, was Sie dazu sagte<< Sie ist eine blöde Kuh und bleibt es auch!<< 

Ich habe einiges aus dieser Geschichte gelernt. So zum Beispiel, dass es besser ist, sich so zu akzeptieren, wie man ist. Wir können es eh nie ändern. Also, wozu mit dem hadern, was uns die Natur gegeben hat? Meine Freunde suche ich seitdem auch nicht mehr danach aus, ob sie gut aussehen oder beliebt sind oder, ob ich mich durch sie besser und schöner finde, sondern danach, ob wir zusammen passen und wir uns so akzeptieren können, wie wir sind. Mein Vertrauen an die Menschen hat sich dadurch nicht grundlegend geändert. Aber bin ich vorsichtiger geworden und hab lieber einmal mehr abgewartet, als zu schnell mit jemanden Freundschaft geschlossen. Und ich habe wahre Freundschaft zu schätzen gelernt. Es bedarf nicht immer einen ganzen Haufen an Freunde. Manchmal reicht schon einer, auf den man sich immer und überall verlassen kann, völlig aus. Ach ja, und die Sache mit meinem Bauchgefühl? Nun, das wurde zu meinem wichtigsten Begleiter. 

  Meine Mutter pflegte gerne zu sagen<< Kind, von einem schönen Teller, kann man nicht essen<<. Mir war lange Zeit nicht klar, was sie damit meinte. Ob durch diese Geschichte oder, weil ich einfach mit den Jahren älter wurde, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Aber irgendwann verstand ich den Sinn und gab Ihr im Nachhinein recht.

Lilo David 2019

 

 

    

 

 

 

     

 

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