Zuckerbrot und Peitsche oder, die Farben meiner Kindheit.
Draußen regnet es in Strömen. Es ist kalt. Ich höre meine Mutter sagen, << ein Wetter, an dem man nicht einmal einen Hund vor die Tür jagt! <<was interessiert mich Hund und Katz, wo ich doch warm und trocken am Küchentisch sitze. Meine Beine baumeln von rechts nach links während sich mein Blick keinen einzigen Augenblick von der Ofentür abwendet. Keine Minute möchte ich verpassen und sofort die Köstlichkeit, auf die ich ungeduldig warte, genießen und während ich warte höre ich Regentropfen, die sintflutartig aufs Pflaster platschen. Nur noch etwas Geduld dann öffnet meine Mutter, mit einem dicken und für mich viel zu großen Ofenhandschuhe die Ofentür und während sie das Ofenblech auf den Küchentisch stellt verströmt der Duft von heißem Zucker mit geschmolzener Butter den ganzen Raum. Warten kann so schwer sein, für ein Kind von sieben Jahren und erst recht, wenn dein kindliches Seelenheil davon abhängt. Ich weiß, dass es mir schmecken wird und dennoch werde ich langsam Stück für Stück abbeißen. Nicht zu gierig sein wird mir schwerfallen. Aber schlingen das darf ich nicht, denn ein zweites Brötchen wird es nicht geben. Auch das weiß ich ganz genau. Ein Zischen stört meine Gedanken. Ich schau hinüber zum Herd uns sehe, wie meine Mutter mit einer Handbewegung, so lässig, wie es wohl nur Erwachsene tun können, heiße Milch in eine große Tasse gießt. Gleich wird sich das Kakaopulver mit der heißen Milch verbinden, wie es zuvor die Butter mit dem Zucker auf dem Brötchen im heißen Ofen getan tat. Mein Herz hüpft vor Freude. Heiße Schokolade und warmes Zuckerbrötchen. Kann es etwas Schöneres geben?
Ich werde erst das Brötchen essen und dann die Schokolade trinken und, wie immer werde ich meine Mutter sagen hören, während sie mir dabei zärtlich eine Strähne aus meinem Gesicht streicht, << puste erst bevor du trinkst<<. Im Gegenzug werde ich ihr mein schönes Lächeln schenken. Ich weiß – sie hat mich lieb und ich sie. Kann Glück und Geborgenheit anders aussehen?
In diesem Augenblick, ich am Küchentisch sitzend und meine Mutter neben mir, waren wir – meine Mutter, die Schokolade, das Brötchen und ich eins - für einen kurzen Augenblick der Zeit in Zuneigung miteinander verbunden.
Am liebsten wäre ich gar nicht da. Laut dringt das Gezeter in meine Ohren. Intuitiv halte ich mir die Ohren zu und plötzlich spüre ich einen Schlag auf meine Wange. << du hast dir deine Ohren nicht zuzuhalten, wenn ich mit dir schimpfe<<, höre ich meine Mutter keifen. Ich habe Angst und fürchte mich. << Ich werde dir helfen<<, brüllt Sie im schrillen Tonfall und dann sehe ich wie sie sich umdreht und in die Küche geht. Mein erster Gedanke ist verstecken. Ich weiß, was mir gleich blüht. Es ist nicht das erste Mal. Aber wohin sollte ich? Ich bin klein und unsere Wohnung für mich ein unüberwindbares Hindernis. Es dauert nicht lange, bis sie zurück ist. In ihrer rechten Hand hält sie den großen Holzlöffel, mit dem sie sonst die Wäsche im Emaille Bottich umdreht. Ich weiß, dass dieser Löffel für mich bestimmt ist und ich fürchte mich zu Tode. Will nur noch weg! Und dann geht alles so verdammt schnell. Ich liege auf dem Boden, während ihre Hand, den Löffel fest im Griff, auf mich einschlägt. Keine Stelle meines Körpers bleibt unberührt. Ich habe Schmerzen, ich weine und versuche mich zu schützen zu gut ich es als Kind vermag. Doch weder kann ich ihrer Hand noch dem Löffel entrinnen.
Mein Herz pocht, nimmt mir den Atem und ich fühle, wie sich mein Magen krampfhaft zusammenzieht. Ein stummer Schrei entlädt sich meiner Seele, als die unzähligen Schläge auf mich herniederprasseln, wie der Regen vor zwei Tagen auf das Pflaster vor unserem Küchenfenster. Kakao und Zuckerbrötchen sind weit entfernt.
Ich spüre keinen Schmerz mehr. Ja, nicht einmal mehr die Tränen, die an meinen Wangen herunterlaufen. Fühle mich hundeelend und gedemütigt und dennoch hören die Schläge einfach nicht auf. Jemand schreit und bettelt, ruft immer wieder, << bitte Mama nicht<<. Erschreckt stelle ich fest, dass ich diejenige bin, die wimmert und bettelt. Ich liege in einer Lache aus Tränen und Urin. Meine Hose ist nass, meine Wangen auch und ich liege einfach nur auf dem Boden und fühle mich so einsam. An der Tür sehe ich zwei Beine. Es dauert einen Moment bis ich begreife, dass es meine große Schwester ist, die da schweigend angelehnt am Türbalken steht und auf mich herabsieht. Ich höre ihre Worte kaum, als sie sich zu mir auf den Boden hockt. Aber, dass Sie mich in den Arm nimmt und mir eine Strähne aus meinem Gesicht streicht spüre ich schon. Es tut so verdammt gut. Ich bin nicht allein!
Aus der Küche hören wir, wie Wasser in einen Topf gefüllt wird und dann kurz darauf die Stimme unserer Mutter, die so klingt, als wäre das mit mir gerade eben nie passiert, << Nudeln oder Kartoffeln? <<. Meine Schwester antwortet für uns beide. Wir schauen uns an. Verstehen einander auch ohne Worte. Meine Beine schmerzen und mein Rücken auch, als Sie mir beim Aufstehen hilft. << komm, wir müssen dich waschen und trockne Sachen anziehen<< höre ich sie leise sagen. Ich weiß, alles ist wieder gut.
In diesem Augenblick, ich im Bad und meine Mutter in der Küche, waren wir - meine Mutter, der Kochlöffel und ich nicht eins – für einen kurzen Augenblick der Zeit waren wir in Feindschaft miteinander verbunden.
Die Schattierungen meiner Kindheit waren Gut und Böse, Yin und Yang, hell und dunkel und dennoch zwischen all diesen unterschiedlichen Farben strömte immer wieder das Gefühl von Geborgenheit und der verheißungsvolle Duft von geschmolzener Butter und klebrig süßem Honig.
Lilo David 2020.