Puppenweihnacht
Als ich sechs Jahre alt war hatte ich großen Kummer. Damals glaubte ich, dass kein Kummer jemals wieder so groß sein könnte, wie der, den ich empfand. Das war, als ich glaubte, dass das Christkind jedes Kind lieber hatte als mich und, weil ich es so sehr glauben wollte, war all der Zauber und die Magie, die dieser Zeit innewohnt für lange Zeit aus meinem Herzen verschwunden.
Dieses Weihnachtsfest unterschied sich nicht von all den anderen. Und doch war es für mich anders als jemals zuvor, denn in diesem Jahr hatte ich zum ersten Mal einen ganz besonderen Wunsch und konnte an nichts anderes mehr denken, als daran, ob das Christkind mir meinen Wunsch auch erfüllen würde. Noch nie zuvor hatte ich mir so etwas so sehnlichst gewünscht wie in diesem Jahr.
Zum Geburtstag hatte ich einen Puppenwagen geschenkt bekommen. Einen schönen und großen, in blau mit weißem Verdeck. Ich hatte mich mit kindlicher Neugierde gefragt, warum man mir einen Puppenwagen schenkt, wo ich doch nicht mal eine Puppe besaß, jedenfalls keine, die für so einen Puppenwagen schön genug war. Die, die ich besaß, war viel zu klein. Ich mochte sie schon lange nicht mehr leiden. Da war es gut, wenn mir zu mindestens das Christkind eine neue bringen würde. Und als meine Mutter mich dann eines Tages fragte, was mir denn das Christkind bringen sollte, konnte ich gar nicht anders als mit leuchtenden Augen mir eine Puppe zu wünschen. Wie sie aussehen sollte das habe ich nicht erzählt. Wozu auch, wenn der Weihnachtsmann und das Christkind wissen, ob ich artig und lieb, gemein und unartig war, ja dann würden sie wohl auch wissen, wie meine Puppe aussehen sollte.
Und dann war er endlich da, der Tag auf den ich unendlich lange Wochen hab warten müssen. Ausstaffiert, im Sonntagskleid, mit sauberen Hals und Händen saßen wir Kinder wartend auf unseren Betten. Meine großen Geschwister hatten ihre Nasen tief hinter einem Buch versteckt. Nur meine drei Jahre ältere Schwester und ich saßen aufgeregt und voller Vorfreude auf der unteren Matratze unseres Etagenbettes. Um uns abzulenken hatten wir uns aus der Küche ein Stück von der Paketschnur abgeschnitten und Karin hatte es sich nach festem Muster um ihre Finger gebunden und ich versuchte es so geschickt wie möglich auf meine Finger hinüberzuheben. Es war doch noch recht schwer für meine kleinen Hände und manchmal schnalzte Karin vor lauter Ungeduld mit ihrer Zunge und zischte mir ein << pass doch auf >> entgegen. Vom Flur drangen rasche Schritte zu uns ins Zimmer und ein paarmal klappte die Tür vom Wohnzimmer auf und zu und mit jedem Klappen der Tür drang auch ein wenig Duft von Zimt und selbstgemachter Vanillesoße in unsere Nasen. Je mehr Zeit verstrich, desto ungeduldiger und aufgeregter wurde ich und als ich dann zum x- ten mal die Schnur nicht auf meine kleinen Hände herüberheben konnte und meine Schwester mich dafür in den Arm zwickte , wollte ich nicht mehr länger mit ihr spielen. Ich streckte ihr gerade die Zunge aus und zog eine Grimasse da hörten wir das leise und fast schon zarte Bimmeln der Weihnachtsglocke, die uns Kinder in die Stube rief.
Aufgereiht, wie die Orgelpfeifen standen wir fünf im Wohnzimmer. Vor uns der festlich geschmückte Tisch. Auf jedem Teller stand ein Bratapfel und daneben für jeden von uns ein bunter Teller, gefüllt mit allerlei Süßigkeiten, Nüssen, einem rotwangigen Apfel, einer saftigen Apfelsine und als krönenden Abschluss lag ganz oben ein Schokoladenweihnachtsmann, mit weißem Bart und einen roten Mantel. Das ganze Weihnachtszimmer war erfüllt von den herrlichsten Düften und gleich hinterm Tisch stand er, der schönste und wundervollste Weihnachtsbaum, den ich je gesehen hatte. Riesengroß, mit bunten Kugeln, in denen man sich durch den Lichterglanz der Kerzen spiegeln konnte. An kleinen Ästen hingen Schokoladen- Engel mit weißen Haaren und goldenen Glitzerflügeln, die sich durch den Luftzug der Kerzen, wie eine Ballerina sacht im Kreise drehten. Ganz vorne, an den feinen Tannenspitzen fiel silbernes Lametta wie der Schweif einer Sternschnuppe zum Boden herab. Und, wir Kinder standen, beim Anblick eines so prächtigen Weihnachtsbaumes, rotwangig und mit offenem Mund davor.
Und dann kam, was kommen musste. Wie jedes Jahr mussten wir Kinder ein Weihnachtsgedicht aufsagen und als wir fertig waren klatschte Mutter in ihre Hände und wünschte uns allen eine fröhliche Weihnacht. Erst dann durften wir uns an den gedeckten Tisch setzten. Mutter erzählte wie es früher war und wir Kinder hörten leise und ehrfürchtig zu, tranken Kakao und aßen den leckeren süßen Bratapfel mit Rosinen und Marzipan. Irgendwann, wenn wir Kinder, meistenteils Karin und ich es vor Spannung nicht mehr aushielten, stand mein Vater auf und dann wusste ich, dass das lange Warten endlich ein Ende hatte. Während Vater bedächtig langsam ein Geschenk nach dem anderen unterm Tannenbaum hervorholte, sang ein Knabenchor mit hohen und feinen Stimmen, aber so lieblich und engelsgleich, dass man beinah glaubte, alle Engel wären höchstpersönlich in unserer guten Stube geflogen. „ Stille Nacht, heilige Nacht „.
Die ersten kleinen Geschenke wurden verteilt und während der Knabenchor inbrünstig ein Weihnachtslied nach dem anderen sang , hörte man mal von der einen Seite , mal von der anderen ein leises << Oh>> oder >>Ah>>. Ich kann mich nicht mehr entsinnen, was mir das Christkind sonst noch gebracht hatte und ob ich mich wirklich von Herzen über eines der Geschenke gefreut habe. Vielleicht noch über den roten Schal, der genauso aussah wie der, den der Pinguin in meinem Lieblingsbuch trug. Denn mit bangem Herzen konnte ich an nichts anderes denken, als an meinen größten Wunsch.
Aber ich weiß noch ganz genau, dass mein Herz einen riesengroßen Sprung tat, als mein Vater dann zwei große Pakete im Arm hielt und mich und meine Schwester verschmitzt lächelnd ansah. Mit tiefer Stimme hörte ich ihn dann sagen: << die hier sind für euch>>. Mein Herz pochte als er mir das eine und viel größere auf meinen Schoß legte. Ich glaube, ich habe noch nie glücklicher ausgesehen wie in diesem Augenblick. Ungeduldig rissen wir, meine Schwester und ich das Papier von unseren Geschenken und dann sah ich sie: MEINE PUPPE. Aber was war das! So eine hatte ich mir nie und nimmer vom Christkind gewünscht.
Sie hatte ja nicht mal ein richtiges Gesicht. Ihre Augen, ihr Mund und sogar ihre Haare waren aufgemalt. Ja, und nicht einmal ihre Beinchen konnte sie bewegen. Nur ihre Arme, mit kleinen Händen, auf denen in Rosarot zarte Fingernägelchen aufgemalt waren, gingen rauf und runter. Sie trug einen gestrickten rosafarbenen Strampler und war viel zu groß für meinen Puppenwagen. Und obwohl es doch eine Puppe war, fühlte es sich in meiner Brust an, als würde mein Herz gleich zerspringen. Alle Freude war aus mir gewichen und ich spürte nur noch tiefen Kummer. So einen Kummer hatte ich noch nie zuvor verspürt und als ich sah, was für eine Puppe das Christkind meiner Schwester gebracht hatte, bebte meine Unterlippe und ich hätte am liebsten geweint.
Ich weiß noch, dass ich dachte, dass es bestimmt ein Irrtum war und das die Geschenke bestimmt vertauscht waren, denn wie konnte es sein, dass ich eine Puppe bekam, die weder Haare , noch Augen noch ein hübsches Kleid trug, während meine Schwester, die sich keine gewünscht hatte und ich wusste es ganz genau , weil sie auch nie auch nur ein einziges Mal so etwas gesagt hatte , eine in ihrem Arm hielt, die so wunderschön war, dass man sie einfach lieb haben musste. Das konnte nicht sein.Niemals konnte das Christkind mir eine derart hässliche Puppe schenken.
Es war, als hätte sich die Tür zu einer ganzen schönen, verzauberten Welt geschlossen. Und ganz gewiss hatte das Christkind meine Schwester lieber als mich und das, obwohl ich in den Wochen vor Weihnachten immer lieb und artig gewesen war. Doch das Merkwürdigste von allem war, dass meine Schwester ihre Puppe gar nicht beachtete. Verlassen , in ihrem grünen Kleid mit roten Blumen, ihren weißen kleinen Lackschuhen und ihren blonden langen lockigen Haaren und einem Gesicht, mit rosa Lippen und rosafarbenen Wangen, dunklen braunen Augen mit langen schwarzen Wimpern, die , wenn man sie hinlegte auf und zu gingen ,stand sie den ganzen Heiligen Abend unten auf dem Boden neben unserer Tanne.
Ich entsinne mich, dass ich mir meine immer wieder von allen Seiten betrachtete und, obwohl ich sie gar nicht leiden konnte im Arm behielt. Es war doch meine Puppe, und ich wollte sie doch lieb haben, auch, wenn es mir so schwer fiel. An diesem Heiligen Abend fand ich das Christkind gemein und ungerecht. Ich mochte es gar nimmer mehr, und schwor mir, es nie wieder so lieb zu haben wie zuvor. Als ich später im Bett lag, spürte ich einen Schmerz genau da wo mein Herz saß und dann weinte ich mich heimlich in den Schlaf.
Ich weiß nicht mehr genau wann es war, aber irgendwann gleich zu Beginn des neuen Jahres passierte etwas, was mich zu mindestens etwas mit meiner Puppe versöhnte. Draußen fielen dicke Schneeflocken und es war bitterkalt. Kein Wetter, um mit andern Kindern auf der Straße zu spielen , oder wie ich es gerne tat mit dem Schlitten im nahegelegenen Park die kleinen Hügel herabzufahren. Karin und ich saßen auf dem Fußboden in unserem Zimmer und jeder spielte leise vor sich hin. Meine Puppe, die ich so gar nicht lieb haben konnte lag auf der Kiste neben meinem Bett. Und manchmal, wenn ich glaubte, dass sie traurig war nahm ich sie, obwohl ich sie nicht mochte, in den Arm und wog sie wie ein Baby hin und her. Die, meiner Schwester lag unter dem Bett und obwohl Karin sie kaum beachtete durfte ich nie mir ihr spielen. Manchmal holte Karin sie hervor und kämmte ihr das lockige Haar. Doch es dauerte nie lange bis sie die Lust daran verlor und sie achtlos liegen ließ.
An diesem Nachmittag, als es draußen so bitterkalt war und wir im Zimmer spielten, jeder für sich, holte Karin eine Schere und zwei Stifte aus ihrer Kiste, nahm ihre Puppe , schnitt ihr das lange, lockige und leuchtende blonde Haar ab, bemalte ihre kleinen Fingernägel mit dem dunkelroten Stift und mit dem anderen Stift, einem hellroten ihre Lippen. Als sie fertig war fragte sie, ob sie mir meine Puppe auch schön machen sollte und, weil ich meine ja so gar nicht leiden konnte, glaubte ich, dass, wenn Karin sie für mich anmalte, sie am Ende ebenso schön aussehen würde, wie Karins Puppe.
Gespannt sah ich zu, wie Karin meine nahm, ihre Haare, mit einem dicken Filzstift schwarz färbte, ihr dann Augenlider malte und ihre Finger mit rotem Filzstift zierte. Doch so sehr sich Karin auch bemühte, an meiner hielt weder schwarz, rot noch sonst irgendeine Farbe. Karin wurde immer wütender und nahm einen Stift nach dem anderen und malte kreuz und quer über das Gesicht, bis kaum noch etwas zu erkennen war. Am Ende sah sie schrecklich furchterregend aus. Und als ich sah, was sie getan hatte begann ich so laut zu weinen, dass Mutter es in der Küche hörte. Natürlich gab es mächtig Ärger und eine dicke Watschen für jeden von uns.
Abends als wir schliefen war es Mutter, die unsere Puppen nahm, sie in heißem Wasser mit Seife so lange wusch bis die Farbe verschwunden war.. Am nächsten Morgen, als ich meine Augen auftat, lag meine neben mir auf der kleinen Kiste. Sie sah genauso aus, wie am Heiligen Abend, als das Christkind sie mir brachte und doch war etwas anders als am Tag zuvor. Heimlich hatte Mutter, wenn wir Kinder in unseren Betten lagen und schliefen, ihr ein Kleid aus leuchtend roter Wolle mit blauen Blumen gestrickt und es ihr angezogen. Jetzt sah sie gar nicht mehr so hässlich aus. Ja, eigentlich sogar richtig lieb. Karins hingegen hatte Mutter neben das Bett gesetzt. Ihr Gesicht war, zwar blasser aber immer noch sichtbar, mit rotem Filzstift beschmiert. Das schöne grüne Kleid, mit den roten Blumen zierten jetzt kleine braunrote Farbflecke und von ihrem langen lockigen Haar war nur noch ein unansehnlicher und zippeliger Rest auf dem Kopf zu sehen.
Als ich fünf Jahre alt war hatte ich großen Kummer. Damals glaubte ich, dass kein Kummer je wieder so groß sein könnte, wie damals, als ich eine Puppe geschenkt bekam, die ich mir so nicht gewünscht hatte.
Erst sehr viel später begriff ich, dass Schönheit immer im Auge des Betrachters liegt und das alles schön sein kann, wenn man es nur in sein Herz hinein lässt.