Straßenansichten - oder, als Oma Köhl aus dem Fenster fiel.
Als Oma Köhl vom Balkon fiel und in unserem Garten landete, lag ich wohlig warm in der Wiege. Ich habe also nichts von diesem Ereignis, an das sich jeder in unserer Straße und das auch Jahre später noch erinnerte mitbekommen. Was hab ich meine Geschwister darum beneidet. Schon deshalb, weil ich mich als Kind immer gefragt habe , wenn ich einen Stock höher zu Oma Köhl ging, oder sie bei uns einhütete, wie es nur möglich sein konnte, überhaupt und erst Recht bei ihren Körpermaßen vom Balkon zu fallen? Ja. Ich glaube, ich hätte es gerne gesehen. Und sei es auch nur um meine kindliche Neugierde zu befriedigen. In all den Jahren waren sich alle einig darüber, dass es nur unserer Wäsche zu verdanken war, dass der Sturz für Oma Köhl glimpflich abgelaufen war. Und ich freute mich, obwohl ich nicht dabei gewesen war, dass unsere Wäsche, die sonst nur zur Ärgernis führte jedenfalls einmal für etwas gut gewesen war.
Warum ich mich gerade dieser Tage an Oma Köhl und an die Straße meiner Kindheit erinnere weiß ich nicht. Ich will verdammt sein, wenn es am Alter liegt, denn so alt bin ich noch gar nicht. Und dennoch drängen sich seit Tagen Erinnerungsfetzen an Erinnerungsfetzen aneinander und schwirren mir wie Mücken ums Gesicht. Wenn ich daran denke entstehen in meinem Kopf Farben von dottergelben Sonnenblumen, von der Sonne gereiften roten Tomaten und einem Grün das an die französische Mittelmeerküste erinnert. Hin- und wieder mischt sich ein dunkel violett von Feldern voll von Lavendel dazu. Meistenteils dann, wenn ich an die denke, die mir nicht wohlgesonnen waren oder, die ich nicht mochte. Es ist eine reichhaltige und bunte Farbpalette, dass es gut tut sich daran zu erinnern. Stück für Stück kriecht es tiefer in mein Bewusstsein und lässt mich an die Menschen denken, mit denen ich aufgewachsen bin.
Da gab es Oma Köhl, das ist die, die aus dem Fenster fiel. Auch wenn es nicht meine richtige Oma war und ich sie mit ihren Enkelkindern teilen musste, so war sie doch die einzige Oma, die ich je hatte. Sie tat all das von dem ich annahm, dass es Großmütter tun. Sie putze mir die Nase, tröstete mich, wenn ich traurig war, tadelte, wenn es etwas zu tadeln gab und ihre Honigbrote waren der Inbegriff puren kindlichen Genusses. Und ich liebte sie dafür, wie man nur eine Oma lieben kann. Schmerzlich bewusst, dass ich nicht ihr Enkelkind war, wurde mir nur an den Tagen, wenn Sabine und kleine Rita zu Besuch kamen. Und sie waren häufig zu Besuch. Wir stritten uns nicht darum und dennoch war Oma Köhls Aufmerksamkeit mir gegenüber eine andere als sonst. Mein Gefühl für Sabine und kleine Rita änderte daran nichts. Zu mindestens Sabine war meine Freundin. Mit ihr saß ich unten vor der Haustür, tauschte Oblaten, spielte Geschichtenball und teilte so manches kindliches Geheimnis. Kleine Rita hatte schon ganz andere Interessen. Sie traf sich lieber mit dem schmucken Nachbars-jungen von gegenüber. Ich hab mich manches Mal gefragt, warum wir sie kleine Rita nannten, wo sie doch viel größer war als meine Schwester und schon mit Rüdiger in der Toreinfahrt knutschte. Einmal wurden beide von Frau Amselfeld aus der zweiten Etage dabei erwischt, wie Rüdiger sich ganz eng an Rita schmiegte und ihr einen langen Kuss gab. Das gab vielleicht ein Ärger und kleine Rita durfte tagelang nicht mehr hinunter auf die Straße. Ich mochte weder Frau Amselfeld noch ihre zwei Töchter und das, obwohl Claudia und Brigitte mit mir in einem Alter waren. Es grauste mir davor an ihrer Haustür vorbeizugehen, wenn ich zu Joachim in den vierten Stock wollte. Joachim war mein bester Freund und ich glaube, irgendwann zwischen dem sechsten und siebten Geburtstag hatten wir uns ewige Liebe geschworen. Joachim mochte Familie Amselfeld auch nicht. Darin waren wir uns immer einig. Wir beide ließen kaum eine Gelegenheit aus, um nicht, bevor wir lachend die Treppen hinunter liefen noch kurz an ihrer Haustür zu klingen. Und sei es nur deshalb, um sie zu ärgern. Manchmal keifte Sie die Treppe herunter und drohte damit zu unseren Eltern zu gehen. Überhaupt keifte sie oft. Man hörte es am Tag und am Abend. Und an manchen Tagen konnte man das Weinen ihrer Töchter, vermischt mit dem Geräusch, wenn nackte Hände auf nacktem Fleisch prallen laut hören. Mir lief immer ein kalter Schauer über den Rücken. Und wenn Claudia oder Brigitte dann mit uns anderen Kindern auf dem Treppenabsatz vor dem Haus saßen, da hatten wir schon ein Gefühl von Mitleid für sie übrig. Aber mochten taten wir sie nicht.
Zähle ich alle zusammen dann müssen wir so gut um die fünfzehn Kinder in der Straße gewesen sein. Es gab keinen Tag, an dem wir uns nicht draußen trafen. Im Frühling und Sommer spielten wir Spiele wie Dosen- Aa, liefen vor dem schwarzen Mann davon, schlugen das Seil und hüpften was das Zeug hielt und uns die Füße qualmten, erzählten Geschichten beim Geschichten-ball und tauschten emsig Oblaten. Im Winter ging es ab in den nahe gelegenen Park zum Rodeln oder wir bauten stundenlang aus den zusammengetragenen Schneehaufen einen Iglu. Hin und wieder gab es Zank und Streit und so manches Mal auch eine saftige Keilerei. Aber trotz alledem hielten wir, wenn es darauf ankam, wie Pech und Schwefel zusammen.
Mit den Jungs von gegenüber trafen wir Mädchen uns hin und wieder oben auf dem Trockenboden. Zwischen frisch gewaschener Wäsche und für eine Tüte Sahnebonbons zogen wir Mädchen uns schon mal unser Höschen herunter, damit Heiner, Thomas und Kalle sehen konnten, wie anders wir aussahen. Einmal durfte Heiner mich sogar berühren. Gerade in dem Moment als seine Hand auf meinem Hintern lag, ging die Tür auf und Frau Lehmann vom Hochparterre stand entrüstet und empört mit ihrem Wäschekorb vor uns. Natürlich hatte sie nichts Besseres zu tun, als es meinen Eltern zu sagen. Von der Tracht Prügel, die dieses Mal ich bezog hatte ich tagelang etwas. Nie wieder zog ich mein Höschen herunter. Kurze Zeit später zogen die Lehmanns in eine bessere Gegend. Und, wenn ich es mir recht überlege passten sie auch nie in unsere Straße. Herr Lehmann war Finanzbeamter und Frau Lehmann eine Mutti, wie man sie sich in den sechziger Jahren nur vorstellen konnte. Ihre beiden Kinder, Maren und Volker spielten so oder so nie mit uns. Es war gut dass sie fortzogen. Wenig schön war das beinah zur gleichen Zeit auch Heiner, Thomas und Kalle mit ihren Eltern in eines dieser Sozialwohnungen am Rande der Stadt zogen. Jeder wusste, dass ihr Vater Alkoholiker war und die Miete nicht mehr zahlen konnte. Für meine Mutter war es ein Segen. War doch so der schlechte Einfluss der Jungen für uns Mädchen nicht mehr vorhanden. Dass wir es freiwillig taten und ebenso neugierig auf sie waren, wie sie auf uns haben wir nie verraten. Ich habe Heiner, Thomas und Kalle sehr vermisst. Denn trotz alledem mochte ich sie und für ihren Vater konnten sie schließlich nichts.
Überhaupt glaube ich gab es so etwas wie eine Doppelmoral. So sehr meine Eltern gegen die Familie Henschel wetterten und sie für asozial hielten, umso weniger sagten sie etwas über Frau Paul von gegenüber. Die gute alte Dame trank was das Zeug hielt. Wie oft sie das Fenster öffnete und nach mir oder eines der anderen Kinder rief, blieb ungezählt. Jedes Mal, wenn Sie lauthals aus dem geöffneten Fenster „ Uta komme mal – oder Heiner komme mal „ rief, wussten wir Kinder, dass sie eine neue Flasche Korn und eine Packung Ernte 23 brauchte. Dann warf sie uns ein in Stanniolpapier gewickeltes Fünfmarkstück hinunter und wir Kinder liefen einträchtig zum Krämer an die Ecke. Entweder kauften wir bei Tante Schön oder, weil es billiger war, im neuen A & O Laden an der Ecke. Herr Fick kannte seine Pappenheimer und es fragte damals auch niemand danach, ob wir noch Kinder waren. Egal, ob wir Schnaps oder Zigaretten kauften – wir kriegten alles. Selbst , wenn das Geld mal nicht reichte. Dann wurde halt angeschrieben und am Monatsende die Rechnung bezahlt. Als Lohn für unseren Dienst gab es an guten Tagen für jeden von uns zwei Mark. An schlechten Tagen nur eine Tüte mit alten klebrigen Bonbons oder zwanzig Pfennig. Meine Mutter entschuldigte Frau Pauls Alkoholkonsum immer damit, dass sie ihren Mann und ihre Kinder im Krieg verloren hatte. „ Sie hat schwere Zeiten durchgemacht „ sagte sie oft. Dass sie manchmal so volltrunken war, dass sie uns Kinder an der Tür kaum erkannte und aus allen Löchern nach Schnaps roch, wusste sie ja nicht.
Auch für Frau Eisenriegel hatte meine Mutter stets eine Entschuldigung parat. Was kann die Arme dafür, wenn der Mann sie mit zwei Kindern und ohne finanzielle Absicherung verlassen hatte. Dafür fand ich, sah Frau Eisenriegel immer sehr schnieke aus. Aufgedonnert in schwarzen Pumps, hochgesteckten Haaren, und einem sündhaft enganliegendem Kleid stolzierte sie die Straße herunter. Wohin sie damals ständig ging wurde mir erst sehr viel später klar. Ab und an saß sie in unserer Küche und trank mit meiner Mutter eine Tasse Kaffee. Worüber beide redeten haben wir Kinder nie mitbekommen. Wir mussten spielen. Und dabei mochte ich ihre beiden Töchter gar nicht so gerne. Im Vergleich zu uns anderen Kindern sahen sie anders aus. Irgendwie südländisch und trugen auch so seltsame und exotische Namen wie Chantal und Chiara. Ich fand, sie waren ebenso aufgedonnert wie ihre Mutter und empfand es eher lästig mit ihnen meine Zeit zu verbringen.
Die Straße meiner Kindheit war bunt und schillernd. Und die Menschen, die dort lebten waren es ebenso. Ob Oma Köhl, die Lehmanns, die Henschels, die Amselfelds , Frau Eisenriegel, mit ihren Töchtern, oder Frau Möller, die noch mit Ende vierzig ein Kind zur Welt brachte und doch jeder wusste, dass es sich um ihre Enkeltochter handelte, weil ihre eigene Tochter mit fünfzehn schwanger wurde. Man schwieg über Dinge, die einen nichts angingen und redete über das worüber jeder reden musste. Und trotz aller Unmoral und Doppelmoral war es meine Straße, in der ich mein Zuhause hatte und mich so geborgen fühlte wie in Abrahams Schoss. Mit nichts in der Welt hätte ich diese Straße eintauschen wollen. Und wenn ich mich heute daran erinnere , wie wir Kinder draußen spielten während unsere Mütter mit ihren Köpfen aus dem Fenster schauten und sich über eine Straßenseite zur anderen unterhielten und dennoch Zeit fanden auf uns zu achten, überkommt mich ein warmes und liebevolles Gefühl.
Nicht alles war in Ordnung und es war beileibe keine vornehme Gegend. Aber es war meine Welt, die ich auf kindlicher Weise erforschen und erkunden durfte. Und das nenne ich rückblickend ein großes Glück. Als ich zehn wurde zogen auch wir in eine bessere Gegend. Ich habe nie wieder etwas von den Menschen meiner Straße erfahren. Wobei nicht ganz. Irgendwann vor drei Jahren erhielt ich eine Mail über Stayfriends.
Joachim, dem ich ewige Liebe und Treue geschworen hatte war auf der Suche nach Bekannten auf mein Profil gestoßen. Er schrieb mir und ich schrieb ihm zurück. Wir tauschten ein paar Erinnerungen aus und erzählten in wenigen Worten, wie es uns seitdem ergangen war. Es tat gut mit ihm zu schreiben, wenngleich ich auch einsehen musste, dass man Vergangenes nie wieder so richtig aufleben lassen kann.